Dinçer Güçyeter 2024 in Basel
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Dinçer Güçyeter, Dichter und preisgekrönter Romanschriftsteller

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Poesie mit voller Wucht: Porträt des Lyrikers Dinçer Güçyeter

Mit der Geschichte seiner Eltern, türkischer Einwanderer, "Unser Deutschlandmärchen" schrieb Dinçer Güçyeter einen der wichtigen Romane im vergangenen Jahr. Doch Güçyeter ist ebenso Poet wie Romanautor. Ein Porträt dieses außergewöhnlichen Dichters.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

"Im Jahr 1983, Deutschland // müde sitzt sie am Küchentisch / ihre Schultern hängen wie eine Seilbrücke / zwischen zwei entschwundenen Heimaten", hebt eines seiner Gedichte an. Dinçer Güçyeter, der für "Unser Deutschlandmärchen", seinen Roman über seine Eltern, sogenannte "Gastarbeiter", 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, dichtet auch über Emigrationserfahrungen.

Die Melancholie hat nicht das letzte Wort

Was für ein Bild! Schultern, die hängen wie eine Seilbrücke. Und doch: Die Müdigkeit – und mit ihr eine spürbare Melancholie – haben hier nicht das letzte Wort. Es gibt einen Kipppunkt in diesem Gedicht, das Dinçer Güçyeters Buch "Mein Prinz, ich bin das Ghetto" eröffnet. Er kommt mit dem Kind, das mit der Mutter am Küchentisch malen will, mit Dinçer. Sie bittet ihn um Stift und Papier, schmunzelt, malt los – und begibt sich in der Phantasie auf eine große Fahrt.

Dinçer Güçyeters Poesie ist immer wieder voller Bewegungen. Er nehme sich eine Geschichte von einer einzelnen Person und mache daraus eine Geschichte von vielen Menschen: "Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem VW-Bus und nehmen Leute in Ihren Bus auf. Und aus einer einsamen Reise wird es eine Reise mit mehreren Menschen. So stelle ich mir das Schreiben vor. Das zeigt mir neue Geschichten, neue Blickwinkel, neue Ansichten. Und damit kann ich mein eigenes Leben auch bereichern. Oder meine Denkweise auch ändern", so Güçyeter im BR-Interview.

"Geschichten in Hosentaschen"

Auf die Frage, wann er sein erstes Gedicht geschrieben habe, antwortet Dinçer Güçyeter – mit einem Gedicht: Es heißt "die Odyssee", handelt also auch von einer großen Fahrt, und ist auf das Jahr 1999 datiert. Seitdem schrieb und schreibt der Lyriker immer auch über die eigene Geschichte – über die Geschichten in seinen Hosentaschen, wie er sagt. Bewegend, wie etwa im langen Gedicht "der Koffer", das von der Mutter erzählt und mit der Reise aus der Türkei nach Deutschland beginnt: mit dem zitternden Koffer zwischen den zitternden Knien.

Oder auch augenzwinkernd, wie in "die Mini-Mönche": Der Friseurbesuch eines Kindes endet nicht mit der ersehnten Jackie-Chan-Frisur, dafür mit flusslangen Tränen auf den Wangen und einer Cola zum Trost. Oft springt Dinçer Güçyeter von unserer Zeit zurück zur antiken Literatur, greift die Stoffe auf. Und er schreibt Gedichte in Chören, voller Bewunderung für die alte Dichtung. Die eigene Geschichte ist auch da gegenwärtig.

"Ein Glas Raki trinken" mit Homer

Seine Oma sei an der ägäischen Küste auf die Welt gekommen, diese Gegend habe ihn immer interessiert: "Da ist sehr viel Literatur entstanden, sehr viel Philosophie. Wenn ich dort am Meer stehe, habe ich noch immer das Gefühl, Homer wird jetzt zu mir kommen und wir werden gemeinsam ein Glas Raki trinken oder einen Teller Humus essen", so Dinçer Güçyeter.

Im "Lied der Ameise" – zu finden im mit Foto-Collagen illustrierten Band "Aus Glut geschnitzt" – heißt es: "mein aufgebraustes Dichterherz / bleibt die Brücke über allen Flüssen." Das ist eine schöne Charakterisierung für die Poesie von Dinçer Güçyeter. Oft schreibt er aufbrausend, wild. Ebenso baut er beständig Brücken über die Flüsse, etwa indem er von Menschen aus Deutschland erzählt, deren Geschichten hier viel zu lange niemand hören wollte. Und er reibt sich an seinem Land.

Die Widersprüche in Deutschland

Der Zyklus "Mein Prinz, ich bin das Ghetto" etwa ist einmal expressive Selbsterkundung. Zum anderen intensive Auseinandersetzung mit Deutschland, mit den vielen Widersprüchen, etwa derart: dass hier geflüchtete Menschen ein Dach über dem Kopf erhalten – nachdem sie fliehen mussten vor den Panzern, die Deutschland produziert. Das Land erweist sich als "verkrochener Vater".

"Am letzten Wochenende gingen Tausende von Menschen auf die Straße. Das ist schön, das ist großartig. Da sieht man, wie bunt unsere Gesellschaft ist. Meine Frage ist nur, ob die Politik parallel mit der Gesellschaft diese Strecke nimmt. Und oft habe ich das Gefühl: Nein, das schafft die Politik nicht", bekennt Dinçer Güçyeter.

Was lässt sich dem entgegensetzen? Immer wieder sind es Fragen, die Dinçer Güçyeter zu den Gedichten führen. Die Poesie begleitet ihn seit der Kindheit. Erst waren es die Lieder, die er in der Wirtschaft seines Vaters hörte, später dann die eigenen Lektüren. Als Jugendlicher entdeckte er die Bücher von Else Lasker-Schüler oder Rainer Maria Rilke. Viele andere kamen dazu, plötzlich etwa scheint in einem Text eine Zeile von Wolf Biermann auf: "Warte nicht auf bessere Zeiten". Gedichte machen für ihn das Leben erträglich, sagt Dinçer Güçyeter. Man spürt das seinen Texten immer wieder an. Und wird angestiftet von seiner großen Begeisterung für die Poesie.

Bildrechte: Dinçer Güçyeter
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Dinçer Güçyeter: "Mein Prinz ich bin das Ghetto"

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