Charismatiker am Pult: Sir Simon Rattle dirigiert das BR-Symphonieorchester
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Charismatiker am Pult: Sir Simon Rattle dirigiert das BR-Symphonieorchester

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Mr. Nice Guy? Sir Simon Rattle ist da

Am Donnerstag leitet Sir Simon Rattle erstmals als Chefdirigent das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Auf den Dirigier-Altstar warten in München große Aufgaben. Und nicht nur am Pult. Wir haben ihn getroffen.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Was ist ein Chefdirigent? Simon Rattle muss lachen, als man ihm diese Frage stellt, ein paar Tage vor seinem Amtsantritt in München. Gar nicht so leicht zu beantworten. Er tastet sich ran: "Zumindest mehr als ein Dirigent." Aha. Und konkreter? Auf jeden Fall trage man mehr Verantwortung, sagt Rattle, Verantwortung für die Institution, für das Team, mit dem man arbeite. In seinem Fall heißt dieses Team ab sofort: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Ein Königstransfer

Vor über zwei Jahren wurde bekannt, dass Sir Simon an die Isar wechselt. Am 3. Januar 2021 unterschrieb er einen Fünfjahresvertrag, beginnend mit der Saison 2023/24. Im Fußball würde man von einem Königstransfer sprechen. Rattle ist immerhin einer der besten und begehrtesten Dirigenten der Welt. 2018 verließ er die Berliner Philharmoniker. Aus Altersgründen, wie er sagte. Insgesamt 16 Jahre leitete der Brite das Orchester und bekleidete damit einen der renommiertesten Posten in der klassischen Musikszene. Danach kann eigentlich nicht mehr viel kommen. Eigentlich.

In diesem Fall ist es anders. Der Altstar – der mit seinen 68 Jahren so alt gar nicht ist – wagt nochmal etwas Neues. Und das ausgerechnet bei dem Verein, mit dem alles begann. So hat Rattle es zumindest erzählt, damals, als seine Verpflichtung bekannt wurde.

  • Zum ausführlichen Interview mit Sir Simon Rattle hier entlang!

Früh verliebt in das BR-Symphonieorchester

Kleiner Zeitsprung: Liverpool im Jahr 1970. Die Beatles haben ihre besten Jahre hinter sich, der FC Liverpool noch vor sich. Und der junge Simon, gerade mal 15 Jahre alt, besucht ein Konzert. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist zu Gast in der Stadt. Rattle kennt die Platten, ist ein großer Fan des damaligen Chefdirigenten Rafael Kubelik, aber das Live-Erlebnis setzt dann doch nochmal einen drauf. "Dieses Konzert sollte mein Leben verändern", so erinnerte er sich vor zwei Jahren.

Selten habe er eine so starke Verbindung zwischen Dirigent und Orchester gespürt, erzählt Rattle. Und es sei genau dieser "Spirit" gewesen, den er wieder erlebt habe, als er 40 Jahre später selbst vor dem Orchester stand. Als unheimlich "flexibel, kultiviert und liebevoll" beschreibt er die Atmosphäre im Orchester. Rattle macht dafür vor allem seine Vorgänger verantwortlich, große Namen: Kubelik natürlich, aber auch seinen Freund Mariss Jansons, der 2019 verstarb.

Eher Klopp als Mourinho

Dieses Erbe tritt er nun an. Und was hat er damit vor? Rattle antwortet salomonisch: "Veränderungen brauchen Zeit." Ein Orchester sei wie ein Tanker – es sei nicht sehr schlau, es zu behandeln wie ein Kanu. Das meint wohl, dass der Respekt vor der Tradition, der Geschichte, der Persönlichkeit des Orchesters dazugehören. Einen gewachsenen Klangkörper baut man nicht über Nacht um. Wer einfach das Ruder herumreißt, hat schon verloren. Ein Glück, dass Rattle die autoritäre Geste nicht liegt, geschweige denn, dass er sie nötig hat. Beweisen muss er sicher nichts mehr.

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Sir Simon Rattle (r.) im Gespräch mit BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff im September 2023

Dirigenten müssten ja nicht auftreten wie José Mourinho, hat Rattle vor einer Weile mal in einem Podcast gesagt, sie könnten auch so sein wie Jürgen Klopp. Ist nicht schwer zu erraten, wem er sich näher fühlt. Rattle ist immerhin Liverpool-Fan. ("War ich immer schon!") Und an sich passen sie auch gut zusammen, Klopp und Sir Simon. Große Umarmer sind sie beide, sowas wie die Chefcharismatiker in ihrem Fach. Rattle redet gerne und gut. Wenn er spricht, macht er viele Kunstpausen. Sowas kann unglaublich nerven. Bei ihm ist es sympathisch. Seine Pausen sind Emphase-Pausen, manchmal begleitet von Emphase-Schnaufern. Der Mann will, dass ankommt, was er sagt. Rattle ist ein leidenschaftlicher Musikvermittler.

Der Chefcharismatiker kann auch unbequem

Und Humor besitzt er auch. Ob er wisse, dass in der Bayerischen Verfassung stehe, dass Bayern ein Kulturstaat sei? Rattle antwortet lakonisch: "Aha. Gut zu wissen." Dass solche Worte mitunter wenig gelten in der Kulturpolitik, auch wenn sie schwarz auf weiß irgendwo stehen, weiß er nur zu gut. Und er kann damit umgehen. Da ist dann Schluss mit Mr. Nice Guy. Konfliktscheu ist Rattle nämlich nicht.

Wie war das nochmal: Der Chefdirigent hat die Verantwortung für das Team, das er anführt? Bei Rattle hat das durchaus auch einen politischen Sound. "Ich glaube, wir sind das einzige Orchester der Welt, das in der eigenen Stadt auf Tour geht – das Einzige, das eigentlich kein Zuhause hat." Natürlich, es geht um den neuen Münchner Konzertsaal im Werksviertel, die künftige Heimat des BR-Symphonieorchesters. Eigentlich war schon alles beschlossen, dann verordnete der Bayerische Ministerpräsident dem ganzen Projekt eine "Denkpause". Und nun? Er habe in den letzten 18 Monaten nichts von Markus Söder gehört, sagt Rattle. Aber er freue sich auf ein Gespräch mit ihm. Wer genau hinhört, dem entgeht nicht, dass hier auch ein Mini-Funke Süffisanz mitschwingt. Ganz harmonisch wird dieses Gespräch wahrscheinlich nicht laufen.

Aber wer weiß – vielleicht können ja Zahlen den Ministerpräsidenten erweichen. In einer aktuellen Umfrage unter internationalen Musikkritikerinnen und Musikkritikern landete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf dem dritten Platz der weltbesten Orchester. Und Rattle wurde zum zweitbesten Dirigenten der Welt gekürt. Ob er das mitbekommen habe? Schon, sagt er. "Aber auch nur darüber zu reden, macht einem klar, was das für ein Bullshit ist." Musikmachen sei doch kein Fußballturnier.

Und das sagt der Jürgen Klopp der Klassik.

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Simon Rattle in seinem Berliner Garten

Am Donnerstag (21.9.) leitet Simon Rattle im Münchner Herkulessaal zum ersten Mal als Chefdirigent das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Auf dem Programm steht Haydns „Schöpfung“. Weitere Termine sind am 22. und am 24. September. Und in der Folgewoche ist dann Mahlers 6. Symphonie dran. Mehr Infos finden Sie hier.

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