10. Dezember, Berlin: Prominente aus Kultur und Politik demonstrieren gegen Judenhass.
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10. Dezember, Berlin: Prominente aus Kultur und Politik demonstrieren gegen Judenhass.

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Kulturjahr 2023: Skandale, Verbote und mangelnde Gesprächskultur

Wie das Kulturjahr 2023 war? So wie das Jahr insgesamt auch: anstrengend, überdreht – und in manchem besorgniserregend. Diskutiert wurde über Rammstein-Skandal und Gender-Verbot, vor allem aber über Judenfeindlichkeit und mangelnde Gesprächskultur.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Zum Beispiel die Schriftstellerin Jagoda Marinic. Sie macht sich Sorgen um unseren Umgang – und sagt: "Unsere Debattenkultur ist aus meiner Sicht an einem Punkt, wo ich mich frage, ob wir wirklich noch Debatten führen, oder ob wir letztlich mittels der Debatten Freunde und Feinde ausmachen wollen, statt irgendwie Themen voranzubringen und Konsens zu suchen."

Wie miteinander umgehen? Wie streiten? Was tun, damit Lagerdenken und Unversöhnlichkeit, damit Hass und Häme nicht Besitz ergreifen von uns und unseren Begegnungen? Das große Thema 2023, auch in der Kultur. Und leider begann das Jahr in der Hinsicht ziemlich kacke. "So schnell konnte ich gar nicht gucken, hatte ich diese Tüte mit Hundekot in meinem Gesicht", erzählt Wiebke Hüster. "Der hat die im Nullkommanichts aus der Tasche gezogen und sie mit der offenen Seite auf meine rechte Wange geknallt und verrieben."

2023, das war auch: Hundekot im Gesicht einer Kritikerin

Die Kulturkritikerin Hüster wurde im Februar in ihrer Würde und Unversehrtheit angegriffen von einem Choreografen, dem ihre Kritiken nicht gefallen hatten. Im August hatte dann auch der Maestro verstanden, um wie viele Schritte er zu weit gegangen war: "Ich bin entsetzt und traurig, dass ich mit einer solchen Tat nun auch Teil des Schlechten bin." Ein Satz, der zeigt, dass es aus jeder Verbohrtheit einen Ausweg gibt: Sich selbst infrage stellen. Erkennen, wo man andere verletzt. Fehler zugeben, Uneinigkeit zulassen. Nicht so schnell beleidigt sein.

"Ich kann mich gar nicht daran erinnern, in früheren Diskussion, Debatten, auch im Fernsehen oder so – dass da je jemand beleidigt war", sagt TV-Philosoph Richard David Precht. "Heute gibt es Millionen Menschen, die unglaublich versessen darauf sind, beleidigt zu sein – egal, was man sagt."

Mit Andersdenkenden diskutieren? Lieber nicht

"Warum wir nicht gern mit Andersdenkenden diskutieren" – so hieß im März eine Podcast-Folge der beiden Profiplauderer Precht und Lanz. Zwei Herren also, die den Verfall der Debattenkultur womöglich eher befördern als bremsen. Im Oktober dann geriet ihr Podcast massiv in die Kritik – weil Precht dort (in einer anderen Folge) die ältesten Vorurteile über Juden nachplapperte. Vielleicht eher gedankenlos als böswillig – und doch: antisemitisch.

Ob Precht seine Kritiker insgeheim für bloß beleidigt hält, weiß nur er. Recht jedenfalls hatten sie: Wer gerade über Juden spricht, sollte sehr genau prüfen, was er oder sie sagt. Nicht aus Angst, "gecancelt" zu werden – sondern, weil Worte Folgen haben. Weil sie, wenn es die falschen sind, ein Klima schaffen, in dem Respekt verloren geht.

"Die öffentliche Debatte ist seit dem Angriff [der Hamas] aufgeheizt, mitunter verworren. [...] Zuviel scheint mir zu schnell vermischt zu werden." Vizekanzler Robert Habeck

Vizekanzler Robert Habeck im November in seiner viel beachteten Rede zum Antisemitismus. "Rede des Jahres 2023", hat die zuständige Jury entschieden. Begründung: "Mit Kürze und Klarheit in Wortwahl und Satzbau präsentiert Habeck ein unmissverständliches Statement in einer schwierigen Problemlage – und bietet damit politische Führung".

"Wir haben sicherlich oft zuviel Empörung in unserer Debattenkultur. Aber hier können wir gar nicht empört genug sein. Es braucht jetzt Klarheit und kein Verwischen. Und zur Klarheit gehört: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner." Robert Habeck, Vizekanzler

Rammstein-Skandal und Gender-Verbot

Ja, das Jahr kannte auch andere Themen. Übergriffigkeit, Missbrauch, gerade in der Kultur. Der Rammstein-Sänger Till Lindemann ist keiner Straftat überführt, hat sich aber als die Sorte Mann herausgestellt, vor der man seine Tochter warnen möchte. Das Gender-Verbot gab es, frisch über Bayern verhängt von Markus Söder. Vor allem aber ist es der Antisemitismus, über den gerade gesprochen wird, gesprochen werden muss – sagt auch Andreas Zick, Konfliktforscher an der Universität Bielefeld: "Also es reicht einfach nicht mehr, an dieses Motto 'Nie wieder!' zu glauben, als wenn das Aussprechen von 'Nie wieder!' Realitäten schafft."

"Nie wieder ist jetzt"

"Nie wieder!", das war und ist seit dem Holocaust das große Versprechen der Bundesrepublik. "Nie wieder ist jetzt" heißt es nun auf Plakaten, hieß eine Kundgebung im Dezember in Berlin, auf der Herbert Grönemeyer und Tausende andere dafür eintraten, dass niemand seine Wut über Israels Vorgehen in Gaza an Juden in Deutschland auslässt.

Viele haben das Gefühl, dass gerade ein Wendepunkt erreicht ist, ein Kipp-Punkt, um mal einen 2023 viel strapazierten Begriff zu bemühen: Besteht unsere Gesellschaft diese "Wochen der Bewährung", wie Habeck das formuliert hat – oder besteht sie sie nicht?

Zum Glück gibt’s ja die Union: Sie hat 2023 ihre gute alte "Leitkultur" wiederentdeckt. Wir nehmen es zum Ende eines echt anstrengenden, irgendwie verkorksten Jahres also mal nicht schwer, sondern leicht, berufen uns auf die christlich-abendländische Tradition – und sehen das Jahresende als Zeit der Zuversicht und Hoffnung.

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