Jemand hält einen Telefonhörer in der Hand (Symbolbild).
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Fast verzehnfacht haben sich die Anrufe bei der jüdischen Telefonseelsorge. Ähnlich sieht es bei der muslimischen Telefonseelsorge aus.

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Krisentelefon: Jüdische und muslimische Seelsorger berichten

Seit dem Krieg in Israel und Gaza ist die Nachfrage bei jüdischen und muslimischen Beratungsangeboten enorm gestiegen. Juden und auch Muslime in Deutschland leiden gerade besonders unter Beschimpfungen und dem Gefühl der Ohnmacht.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Der 7. Oktober war der mörderischste Tag für Jüdinnen und Juden seit der Schoah. Das und auch die antisemitischen Angriffe weltweit führen zu enormen psychischen Belastungen für jüdische Menschen, auch in Deutschland. Jüdische Beratungsstellen haben deshalb gerade besonders viel zu tun.

Nachfrage bei Beratungsstellen verzehnfacht

"Es ist ganz wichtig festzuhalten, dass das Simchat Tora Massaker der Hamas am 7. Oktober und die darauf folgende weltweite Welle antisemitischer Gewalt eine nie zuvor erlebte Zäsur für jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 darstellt", sagt Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Seit dem Terrorangriff am 7. Oktober beobachtet er, dass sich viel mehr Jüdinnen und Juden hilfesuchend an Beratungsstellen wenden: aufgrund der Belastungen durch den Krieg in Israel, die Angst um Verwandte oder Freunde vor Ort - aber auch wegen der Bedrohungslage in Deutschland. Seitdem hätten sich die Anrufe bei der Beratungsstelle für antisemitische Gewalt, die zur Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland gehört, verzehnfacht.

Unsicherheit, wie man mit der Bedrohungslage umgeht

Nicht nur OFEK, die Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung, bietet Hilfe an. Unterstützung finden Jüdinnen und Juden auch in anderen Einrichtungen der Zentralwohlfahrtsstelle – von der Jugendarbeit bis hin zur Altenhilfe oder Angeboten der Telefonseelsorge in unterschiedlichen Sprachen.

Viele der Anfragen zeigten, dass Menschen nicht wüssten, wie sie im Alltag mit der Bedrohungslage umgehen sollen, so Aron Schuster: "Wir haben viele Eltern, die in großer Sorge um ihre Kinder sind, die jüdische Einrichtungen besuchen. Wir haben die Situation, dass jüdische Gemeinden ihre Gemeindemitglieder auffordern, keine sichtbaren jüdischen Symbole zu tragen. Sie sind unsicher, letztendlich auch in ihrer Entscheidung darüber, was sie sagen und wie sie sich im öffentlichen Raum verhalten sollen." Und es gebe die Menschen, vor allem Schoah-Überlebende und die unmittelbare Nachfolgegeneration, die von den aktuellen Ereignissen retraumatisiert und von dunklen Erinnerungen verfolgt würden.

Muslime in Deutschland: Kein Raum für Trauer

Auch viele Muslime in Deutschland leiden unter der aktuellen Situation - wegen der Sorge um Angehörige in Gaza oder auch der Stimmung hierzulande. Mohammad Imran Sagir ist Geschäftsführer des muslimischen Seelsorge-Telefons in Berlin. Viele in der palästinensischen Community seien durch ihre eigenen Fluchterfahrungen traumatisiert. "Das Trauma bleibt, wenn es nicht aufgearbeitet ist, auch in der Familiengeschichte, dann so, dass es weitergegeben wird, auch in den nächsten Generationen", sagt Sagir. Das beträfe vor allem Menschen mit palästinensischen Wurzeln. Viele von ihnen hätten auch das Gefühl, dass es keinen Raum dafür gebe, Trauer um palästinensische Opfer auszudrücken.

"Was wir natürlich mitbekommen: dass die Leute in großer Sorge sind. Sie haben das Thema Traurigkeit, sie haben das Thema Unverständnis, wie Dinge jetzt genau gelaufen sind. Es gibt natürlich auch das Thema Wut, dass man nicht seine Meinung äußern kann. Zumindest ist das der Eindruck", sagt Mohammad Imran Sagir vom muslimischen Seelsorge-Telefon.

Auch Mitarbeiter in Beratungsstellen wurden beschimpft

Zum Beispiel sei in Berlin Schülern das Tragen des Palästinensertuchs verboten worden. Deutschlandweit wurden pro-palästinensische Kundgebungen untersagt. Für andere sei es vor allem antimuslimischer Rassismus, sagt Sagir, der sie in die Beratungsstellen treibe: das Empfinden, mit Terroristen in eine Schublade gesteckt zu werden.

"Claim", die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, spricht aktuell von etwa drei antimuslimischen Vorfällen pro Tag. "Es ist tatsächlich so, dass es auch Anrufe gab von Leuten, die sich Beleidigungen wie 'Kindermörder' anhören mussten nach dem Terroranschlag am 7. Oktober", sagt Sagir. Sogar die Mitarbeiter in den Beratungsstellen hätten bereits einzelne Anrufe erhalten, in denen sie beschimpft worden seien. Jüdische und muslimische Berater sind sich einig: Die Vorfälle der letzten Wochen werden langfristige Auswirkungen haben – auf jüdische und muslimische Menschen.

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