Chor-Mitglieder am Wasser
Bildrechte: Jaro Suffner/Komische Oper Berlin

Zwischen Toten und Lebenden

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"Kämpfen lohnt sich": Polit-Oper "Floß der Medusa" begeistert

1968 reichte es noch zum Polit-Skandal, inzwischen hat Hans Werner Henzes Agitprop-Stück an klassenkämpferischer Schärfe, aber nicht an Brisanz verloren. Im Ex-Flughafen Tempelhof gelingt Regisseur Tobias Kratzer eine höchst aktuelle Deutung.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Heute ist es nur noch ein roter Fetzen Stoff, damals, 1968, war es eine gewaltige Provokation: Die rote Fahne galt natürlich als Sinnbild des Kommunismus, zumal bei der Uraufführung in Hamburg auch noch ein Poster des kubanischen Revolutionsführers Che Guevara an einem Konzertpult hing. Es kam zum Tumult, der seinerzeit ganz linke Komponist und offen Homosexuelle Hans Werner Henze (1926 - 2012) hatte mit seinem Oratorium "Das Floß der Medusa" mächtig Krawall gemacht. Die Provokation war gelungen, kannte sich Henze damit doch bestens aus: Er nahm kurz darauf einen "Lehrauftrag" an der Universität Havanna an, wurde vom "Spiegel" als "APO-Mann" bezeichnet, also der linken Außerparlamentarischen Opposition zugerechnet, und beherbergte den Studentenführer Rudi Dutschke in seiner Villa bei Rom, nachdem dieser angeschossen worden war.

Inspiriert von Théodore Géricault

Und heute? Ist der Jubel groß auf dem Gelände des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof, wo die Komische Oper Berlin eine monumentale Inszenierung wagte. Regisseur Tobias Kratzer, in Landshut geboren und in Bayreuth mit Wagners "Tannhäuser" ausgesprochen erfolgreich, gelang eine in jeder Hinsicht aktuelle Deutung dieses eigentlich etwas bejahrten Agitprop-Stücks. Inspiriert wurde es von dem berühmten gleichnamigen Gemälde des Franzosen Théodore Géricault (1791 - 1824), der den Skandal um das Flaggschiff Medusa dokumentierte. Es lief im Sommer 1816 vor der afrikanischen Küste auf Grund, die bessere Gesellschaft samt dem Kapitän brachte sich im Rettungsboot schleunigst in Sicherheit, der Rest der Mannschaft, darunter Frauen und Kinder, musste sich auf ein provisorisches Floß flüchten, worauf die allermeisten elend zu Grunde gingen.

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Am Badesee

1968 wurde das alles als Beispiel für den Klassenkampf interpretiert, die Armen gegen die Reichen. Tobias Kratzer ließ von seinem Ausstatter Rainer Sellmaier eine ziemlich große Wasserfläche bauen, die unweigerlich an die Flüchtlingskrise erinnert, zumal Charon, der Fährmann zur Unterwelt, hier in einem roten Rettungsboot unterwegs ist. Dazu der Regisseur gegenüber dem BR: "Ich glaube, das Stück hat tatsächlich in den vielen Jahren seit 1968 viele weitere Bedeutungsebenen hinzugewonnen, nicht nur realpolitisch durch die Flüchtlingskrise, von der man ja automatisch Bilder vor Augen hat, wie man sie auch durch dieses Stück evoziert bekommt. Es geht noch darüber hinaus, es wird sogar zu einer Zustandsbeschreibung des Menschen im All, wenn man es so hochtrabend ausdrücken will. Da ist das Stück real und existentiell eigentlich reicher geworden als in dieser Verengung, die es 1968 noch hatte."

"Es lohnt sich, für ein besseres Leben zu kämpfen"

Irgendwie klassenkämpferisch wirkt das nicht mehr, eher schon unendlich traurig: Eine Menschheit, wo jeder an sich selbst denkt und gerade dadurch den Untergang beschleunigt. Der Rotwein reicht nicht für alle, auch nicht der Schiffszwieback. Kannibalismus ist die Folge, Wahnsinn und Selbstmordgedanken erfassen die Überlebenden. Der Tod steht bereit und bietet die einfachste Lösung an. Tobias Kratzer: "Wenn es eine Gegenbotschaft gibt, dann vielleicht gegen die Selbstaufgabe. Es gibt ja diese ungeheuer verführerische, auch musikalisch verführerisch komponierte Figur des Todes, der Frau Tod. Wenn es eine Botschaft des Stückes gibt, dann die, dass es sich selbst da, wo die Selbstaufgabe leichter und angenehmer erscheint, trotzdem lohnt zu leben und für ein besseres Leben zu kämpfen."

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Kampf ums Überleben

Unglaublich, was der Chor leistet, der auf, im und unter Wasser im Einsatz ist. Alle drei Solisten werden gefeiert: Gloria Rehm als Frau Tod im schwarz-silbern schimmernden Abendkleid, Günter Papendell als verzweifelter Hoffnungsträger, der trotz aller Grausamkeiten bis zum Ende den Horizont im Auge behält, und Idunnu Münch als Fährmann Charon, der hilflos durch die Katastrophe rudert. Es reicht nicht für alle, soviel ist klar: Aber wie soll die Menschheit damit umgehen?

Winken hilft garantiert nicht

Bei Hans Werner Henze streiten die Toten mit den Lebenden, ringen Diesseits und Jenseits miteinander, soll das Publikum ganz im Sinne des skandalumwitterten, aufwühlend realistischen Propaganda-Gemäldes von 1819 aufgerüttelt werden. Gut, dass Tobias Kratzer diesem Ausrufezeichen kein zweites angefügt hat, sondern den Zuschauern Raum lässt für jeweils eigene Gedanken zum Thema. Die wenigen Überlebenden werden nach rund 70 Minuten Spieldauer von einem Lotsenfahrzeug abgeholt, das auf dem alten Vorfeld des Flughafen Tempelhof mit gelbem Blinklicht vorfährt: Follow me! Etwa zur Startbahn?

Aktueller geht es nicht: Die Migration entscheidet ja gerade Wahlkämpfe, der Klimaschutz sorgt für erbitterten Streit, die Ressourcenknappheit polarisiert wie kaum jemals zuvor. Das Floß, auf dem die Menschheit unterwegs ist, droht zu kentern und winken hilft garantiert nicht. Ein starker Abend mit einem modernen Klassiker.

Münchner "Ring" wartet auf Kratzer

Der gebürtige Niederbayer Tobias Kratzer wird übrigens ab August 2025 die Hamburgische Staatsoper leiten, bleibt München jedoch verbunden: Ab dem kommenden Jahr soll er an der Bayerischen Staatsoper einen neuen "Ring" inszenieren, wie üblich sind für die Premieren der vier Teile vier Spielzeiten vorgesehen. Angesichts der "Erfolgssträhne" des Regisseurs sind die Erwartungen hoch gespannt, zumal München mit den letzten beiden "Ring"-Inszenierungen (in den Versionen von Herbert Wernicke/David Alden und Andreas Kriegenburg) eher mäßigen Erfolg hatte.

Wieder am 23., 26., 28. und 30. September an der Komischen Oper Berlin im Hangar 1 des ehemaligen Flughafens Tempelhof

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