Beim Rundgang durch die Fabrikhalle
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Putin besichtigt eine Fabrik im russischen Tscheljabinsk

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"Goliath steht noch": Sind Sanktionen gegen Putin nutzlos?

Auch die härtesten Sanktionen hätten der russischen Rüstungsindustrie bisher kaum geschadet, behaupten westliche Fachleute - in Übereinstimmung mit den Propagandisten des Kremls. Spötter behaupten allerdings: "Auch einer Leiche wächst ein Bart."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das "Wall Street Journal" kommt in einer neuen Analyse zu einem ziemlich eindeutigen Ergebnis: "Die größten Sanktionen aller Zeiten konnten Russlands Kriegsmaschinerie nicht stoppen" heißt es da in der Überschrift. Jedenfalls seien die Auswirkungen der wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen in Moskau wohl "langsamer als erhofft" spürbar geworden. So wird eine ausführliche Studie ukrainischer Wirtschaftsexperten vom Januar 2024 zitiert, wonach von rund 2.800 auf dem Schlachtfeld eingesammelten Trümmerteilen russischer Waffen angeblich 95 Prozent aus westlicher Produktion stammten. 72 Prozent seien sogar von Firmen hergestellt worden, die ihren Sitz in den USA hätten. Nur bei ganzen vier Prozent habe es sich um chinesische Komponenten gehandelt.

Putins Rüstungsbranche sei also nach wie vor "ganz wesentlich" von Importen abhängig: "Von daher wären Ausfuhrbeschränkungen ein mächtiges Instrument, Russlands Kriegsanstrengungen zu hemmen. Allerdings scheint die Durchsetzung der Maßnahmen bisher ungenügend zu sein und es sind Schritte nötig, sie effektiver zu machen."

"Wachstum hat tatsächlich überrascht"

Die Situation sei letztlich "kafkaesk", so die Autoren der Untersuchung, denn die Verbündeten der Ukraine müssten immer mehr Waffen und Munition liefern, um das Land vor einer Kriegsmaschinerie zu beschützen, die Russland nur produzieren könne, weil Putin weiterhin Zugang zu Komponenten habe, die ebenfalls aus dem Westen eingeführt würden. Auf dem Schlachtfeld habe das zu einer "zunehmend kritischen Lage" geführt. Unterdessen werde China "immer mutiger" bei der Lieferung von Chemikalien für Sprengstoffe und habe auch schon vorgefühlt, ob es Putin Kampfdrohnen zur Verfügung stellen könne, zitiert das "Wall Street Journal" anonyme Gesprächspartner.

Mit dieser aus westlicher Sicht düsteren Bestandsaufnahme steht das US-Wirtschaftsblatt nicht allein da. Kürzlich sagte Julie Kozack, die Kommunikationschefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), auf einer Pressekonferenz, es gebe zwar Anzeichen für eine "Überhitzung" der russischen Wirtschaft und damit verbundene Inflationsrisiken, sowie mittelfristig düstere Aussichten, auch wegen des Fachkräftemangels. Aktuell jedoch sei Putins Rüstungsbranche stabil: "Was die Frage nach der russischen Wirtschaft und den Sanktionen angeht, kann ich sagen, dass uns die russische Wirtschaft hinsichtlich der bisherigen Wachstumsstärke tatsächlich überrascht hat. Es ist gleichzeitig klar, dass sich Russland derzeit in einer Kriegswirtschaft befindet, was bedeutet, dass große Investitionen in Militärausgaben getätigt werden, die die Produktion ankurbeln."

"Krieg endet, wenn sich die Mühe nicht mehr lohnt"

Im Fachblatt "Foreign Affairs" kommt der britische Sicherheitsexperte und Militärhistoriker Lawrence D. Freedman ebenfalls zum Fazit, dass Russland bisher vergleichsweise wenig unter den westlichen Strafaktionen gelitten hat: "Selbst größere Rückschläge im Krieg scheinen Putin kaum zu beeindrucken. Die Kosten des Krieges, einschließlich der Wirtschaftssanktionen, wurden durch den Anstieg der Öl- und Gaspreise begrenzt. Bis Ende 2022 war es dem Kreml gelungen, das ganze Land in den Kriegszustand zu versetzen und es dazu zu bringen, zu akzeptieren, dass ein langer Kampf bevorsteht. Umfragen haben gezeigt, dass die Russen den Krieg im Allgemeinen unterstützen, wenn auch nicht mit großer Begeisterung. Da Putins Machtposition und sein politisches Erbe davon abhängen, dass er trotz all der Opfer und der Bemühungen etwas vorweisen kann, ist er entschlossen, so lange weiterzumachen, bis er etwas erreicht hat, das er als Sieg verkaufen kann. Goliath besteht also vorerst im Kampf und kann weiterhin von den Vorteilen seiner Größe und seiner robusten Stärke profitieren."

Allerdings sei auch "David" noch im Rennen, so Freedman, und niemand im Westen könne genau einschätzen, unter welchem Druck Putin im eigenen Land stehe, denn er müsse den Russen "schnell Ergebnisse" vorweisen, sonst werde es schwieriger, die ganze Sinnlosigkeit des "teuren und frustrierenden Kriegs" zu verbergen: "Der Krieg wird enden, wenn eine Seite glaubt, dass sich die Mühe nicht mehr lohnt, und demzufolge versucht, ihre Verluste zu begrenzen. Diese Entscheidung wird nicht nur eine Folge militärischer, sondern auch wirtschaftlicher, sozialer und politischer Faktoren sein." Mit Verweis auf die bekannte biblische Geschichte schreibt Freedman allerdings auch, dass es für einen "David" viel schwerer sei, in einem langen Krieg zu gewinnen, als Goliath gleich zu Beginn den entscheidenden Schlag zu versetzen.

"Ernsthafte Weggabelung im Herbst"

Dass kremlnahe Propagandisten wie der Politologe Sergej Markow zum 2. Jahrestag des Angriffskrieges behaupten, es sei dem Westen nicht gelungen "Russland zu erdrosseln", liegt auf der Hand: "Erstens ist die russische Wirtschaft groß und weitgehend autark. Zweitens hilft der größte Teil der Welt Russland bei der Umgehung der Sanktionen. Drittens sind die Russen sehr kreativ. Es wird immer gut gehen." Noch am ehesten träfen die Sanktionen - ein russischer Blogger zählte inzwischen 15.628 - die russische Mittelschicht, die "oft ins Ausland" reise, sowie die Exilanten: "Das heißt, im Ergebnis der Sanktionen scharen sich die Russen um Putin."

Ähnlich hatte es auch Putins Verteidigungsminister Sergej Schoigu ausgedrückt, der gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur TASS von einer Art "Volksbewaffnung" schwärmte und mit keinem Wort die Sanktionen erwähnte. So habe Russland 270 frontnahe Reparaturwerkstätten im Einsatz: "Artillerierohre werden dort ausgetauscht, was viel Arbeit macht, da die Feuerrate und der Verschleiß sehr hoch sind." Schoigu verbreitete die Mär, es würde "Tausende" von Drohnen täglich hergestellt: "Als nächstes kommt die Künstliche Intelligenz."

"Sanktionen wirken also doch"

Der kremltreue Militärblogger Boris Roschin versuchte es mit Häme, verwies auf das mit 1,3 Milliarden Euro höchste Jahresdefizit der Europäischen Zentralbank seit zwanzig Jahren und kommentierte: "Sanktionen wirken also doch." Ähnlich humorvoll, aber mit gegenteiliger Stoßrichtung, äußerte sich der im Exil lebende russische Politologe Abbas Galljamow: "Erdogan scheint der russischen Propaganda geglaubt zu haben, die ständig behauptet, Sanktionen seien nur 'zu ihrem Vorteil'. Er beschloss, Putin diesbezüglich unter die Arme zu greifen, indem er die Lieferungen nach Moskau unterbrach."

Realistischer Weise könne es nicht das Ziel von Sanktionen sein, Russland vom Weltmarkt zu isolieren, argumentiert ein kremlkritischer Blogger mit 413.000 Fans, sondern lediglich, seine Kosten zu maximieren: "Experten haben wiederholt darauf hingewiesen, dass das Instrument der Sanktionen einen grundlegenden Konstruktionsfehler hat: Es gibt keine Exit-Strategie. Brüssel hat die Sanktionen überstürzt verhängt, ohne ein klares Verständnis davon zu haben, was langfristig damit erreicht werden soll. Noch ist unklar, welche Ergebnisse die EU tatsächlich von ihren Sanktionen erwartet. Will Brüssel, dass die davon Betroffenen sich gegen den Krieg positionieren? Damit sie sich aktiv an der Wiederherstellung der Ukraine beteiligen? Nur klare Kriterien könnten dazu beitragen, einen Teil der Elite davon zu überzeugen, sich stärker vom Kreml zu distanzieren. Zur Zeit haben die Sanktionen einen gegenteiligen Effekt. Weil ihre Investitionen im Westen eingefroren sind, verlagern die [russischen] Milliardäre ihre Aktivitäten nach Russland."

"Im Prinzip unverständlich"

Der frühere russische Finanzminister, Banker und Berater Michail Sadornow sagte unterdessen dem liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant", es gebe zwar erhebliche Einbrüche bei der Auto-, Textil- und Gasindustrie, dafür stabilisierten allerdings die Staatsausgaben für die Rüstung vorerst das Wachstum. Auch der inländische Tourismus boome, weil die meisten Russen nicht mehr ins Ausland reisen könnten. Die Landwirtschaftsexporte seien sogar auf Rekordniveau: "Im Herbst 2024 erwartet uns eine ernsthafte Weggabelung. Entweder werden die Militäreinsätze tatsächlich beendet oder eingefroren – dann können die [Rüstungs-]Ausgaben wie geplant in den Jahren 2025 bis 2026 wieder gesenkt werden, oder wir müssen die Steuern erhöhen."

Der russische Politologe Georgi Bovt erwartet sich von einer weiteren Verschärfung der Sanktionen vor allem "sekundäre" Auswirkungen. Unabhängig von einzelnen eigens aufgeführten Produktgruppen wie elektronischen Bauteilen würden Banken und Wirtschaftsunternehmen weltweit vor russischen Geschäftspartnern zurückschrecken, um sich keinem Risiko auszusetzen: "Es ist bereits so schlimm geworden, dass im Prinzip unverständlich ist, wie das alles jemals wieder ohne einen großen Krieg und eine völlige 'Auflösung' der Welt 'abgebaut' werden könnte. Ein einfacher Waffenstillstand mit der Ukraine und ein Einfrieren des Konflikts (was ebenfalls noch nicht in Sicht ist) werden nichts bringen."

"Dann werden wir Ärzte brauchen"

Russische Leser, die unter der Inflation und teilweise leeren Regalen in den Geschäften leiden, sind nicht so gelassen wie die Propagandisten: "Auch einer Leiche wächst vorübergehend ein Bart", hieß es zur angeblichen Wirkungslosigkeit der Sanktionen. Hauptsache, momentan sei alles in Ordnung: "Danach wartet auf uns der Nebel." Es gehöre nicht viel Intelligenz dazu, sich die Folgen der Inflation vorzustellen, und der Iran liefere seine Drohnen bestimmt nicht gegen Rubel: "Unser Gold schmilzt mit sagenhafter Geschwindigkeit." Ironisch schrieb ein Spötter: "Ich denke, spätestens im Mai werden wir Amerika und China überholt haben." Wenn ein Ballon dermaßen schnell aufgepumpt werde wie die russische Kriegswirtschaft, platze er "unweigerlich".

"Wachstum in Form von Granaten, Panzern und Kanonen, die jeweils zerstört werden. Cooles Wachstum. Strategisch gesehen bedeutet das den Bankrott der Russischen Föderation", bilanzierte ein Leser die von Putin und seinen Fans so rosig beschriebene Konjunktur. "Sobald die Operation endet (und sie wird auf die eine oder andere Weise enden), wird es nicht nur kein Wachstum mehr geben, sondern einen großen Knall. Es werden dann weder Granaten benötigt, noch Arbeiter, die sie in vier Schichten herstellen, noch Rüstungsfabriken in solchen Mengen. Sie werden stattdessen viele Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen benötigen, Orthopädietechniker, Psychologen verschiedener Art."

"Viel Altmetall in ukrainischer Steppe"

Was das denn für ein Wachstum sein solle, fragte ein offenbar wirtschaftlich Interessierter, wenn es jährlich in Rubel gerechnet zwar um drei Prozent zulege, der Außenwert der russischen Währung aber gleichzeitig um zwanzig Prozent einbreche: "In den Steppen der Ukraine haben wir immerhin viel Altmetall angehäuft für das Recycling."

Einer der viel zitierten Polit-Blogger schrieb sarkastisch: "Die Sanktionen schaden all denjenigen Bürgern, die keine normalen Autos mehr kaufen und keine sicheren Flugzeuge mehr benutzen können, bis hin zu den Oligarchen, deren Villen und Yachten im Ausland regelmäßig beschlagnahmt werden. Und das Lustige daran ist: Es ist unklar, warum. Es liegt auf der Hand, dass die Kosten dieser Maßnahmen bereits ein Vielfaches ihrer Wirkung ausmachen."

"Es hat sich so ergeben"

Die einzige konkrete und unbestrittene Auswirkung der Sanktionen, die derzeit in Russland Schlagzeilen macht, traf Außenminister Sergej Lawrow bei seiner Dienstreise nach Südamerika zum G-20-Treffen. Dort wurde sein Flugzeug zunächst nicht betankt, mit Verweis auf drohende Probleme des Treibstofflieferanten mit amerikanischen Partnerunternehmen: "Es hat sich so ergeben. Das ist ein gutes Beispiel, um zu verstehen, wie sich Geopolitik nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die normalen zwischenstaatlichen Beziehungen auswirkt", so Lawrow, der kurzfristig darauf angewiesen war, dass ihn sein brasilianischer Amtskollege als Passagier mitnahm: "In Brasilien gibt es praktisch keine Unternehmen, die Flugzeuge betanken, die nicht im Besitz westlicher Konzerne sind. Ich nehme die Maßnahmen unserer brasilianischen Partner zur Kenntnis, die alles getan haben, um dieses Problem zu lösen."

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