Der Autor Frank Witzel
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Geht's noch? Frank Witzel versucht, Geschichten zu schreiben

Frank Witzel hat sich mit einem wilden BRD-Roman einen Namen gemacht, Schreibkrisen überstanden, Gedankentagebücher verfasst. Nun legt er einen Erzählband vor: "Die fernen Orte des Versagens". Ein grandios gelungenes Buch über das Scheitern.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Manche sagen ja, das sei eigentlich nicht lesbar. Meine Buchhändlerin zum Beispiel sagt das, und sie meint damit den 2015 erschienenen Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" von Frank Witzel. Ein Buch, so sperrig wie sein Titel, das jedenfalls stimmt: 800 Seiten, darin viel bundesrepublikanische Geschichte, Politik, Popkultur, Philosophieren und Theoretisieren, Katholizismus und Therapie. Die Jury des Deutschen Buchpreises befand damals, dass man das zweifellos lesen sollte – und gab dem bis dahin kaum bekannten Autor den Preis.

Eine Geschichte erzählen? Komplett absurd

Damit war Frank Witzel im Literaturbetrieb angekommen – und wurde gleich mit dem großen US-amerikanischen Autor Thomas Pynchon verglichen. Natürlich reiche er an den nicht heran, sagte er selbst dazu, seelenverwandt aber fühle er sich schon: Wie Pynchon sei auch er einer, der "sehr tief in Sachen reinbohren" könne, "manchmal auch penetrant tief".

Das tut Witzel auch in seinem neuen Buch, "Die fernen Orte des Versagens". Auf dem Cover steht nur dieser melancholische Verunsicherung verheißende Titel, schlägt man das Buch auf, findet sich auch eine Genrebezeichnung: Erzählungen sollen es sein.

Um klassische Stories aber geht es nicht, das wird schon im ersten von insgesamt 14 Texten klar. Der Form nach ein 70 Seiten langer Brief, in dem jemand einem Freund von seinem Scheitern als Autor berichtet. Nichts weiter als "Erzählstümpfe" habe er zusammengebracht, heißt es da, Beispiele werden auch geliefert: Passagen, die sich wie ratlose Lexikonartikel lesen, andere, die Krimiplot-Fragmente ohne Auflösung aneinanderreihen. Fazit: "Eine Geschichte zu erzählen, erscheint mir mittlerweile komplett absurd." Als Auftakt eines Erzählbandes ist das schon mal eine Ansage.

Heidegger-Double und Höllenhund

Was folgt, ist weniger Klage und Selbstanklage als im Eingangsstück. Die Frage jedoch, wie man erzählen kann, ist immer da. Eine Geschichte organisiert sich ganz simpel als nummerierte Folge von Fotos, die man durchblättert wie handliche Tableaus der Verlassenheit, eine andere braucht als Groteske über ein Fotoshooting mit Heidegger- und Celan-Double nur vier Seiten. Hekate, Göttin der Übergänge und der Magie, tritt zusammen mit Zerberus, dem Höllenhund mit Schlangen am Kopf, in einem Haus-mit-Garten-Setting auf – und hier wird das verstörend Surreale gerade dadurch verstärkt, dass es im Ton eines geradlinigen Realismus erzählt ist. Die interessantesten Stilmittel des Buches aber sind Abschweifung und Nebenlinie, das Verfolgen und Weiterverfolgen von Gedanken und Bildern, das mal wie eine Ausflucht wirkt, mal insistierend.

Natürlich ist das alles riskant und kann leicht beliebig werden. Und natürlich entwickelt man beim Lesen Widerstand gegen das Verspulte und Verquere dieser Geschichten. Doch Frank Witzel hält die heikle Balance seines Unternehmens. Und er verfolgt eine große Frage, die keine rein erzähltheoretische ist: Wie kriegen wir die Welt überhaupt zu fassen? Das bedeutet auch: Was müssen wir eigentlich alles weglassen, um Welt und Wirklichkeit in einen schön stringenten Plot zu packen, wie wir ihn sonst so kennen?

Ein existenzieller Schmerz

Besonders eindrücklich führt das der letzte Text vor, eine Art Entsprechung zum Wutschreiben des ersten, wieder gut 70 Seiten lang. Der Ich-Erzähler, untergebracht in einer Klinik, hat Ausgang, hofft auf ein Wiedersehen mit einer Geliebten, die vielleicht nicht mehr ist als ein Mädchen, das er mal geküsst hat. Er erinnert sich, wie er als Junge ein Buch der Rekorde studiert hat, fragt sich, was Rekorde so reizvoll und zugleich so traurig macht, denkt an seine Mutter, die, aus dem Koma erwacht, wie eine Religionsgründerin sprach. Er geht Redewendungen nach – wenn es heißt "den Löffel abgeben", was sagt das über den Menschen als jenes Wesen, das es mit Dingen zu tun hat? – nimmt sie wörtlich, verzettelt sich in diesem Wörtlichnehmen.

Auch das wieder ein Fest von Abschweifung und Nebenlinie – und dennoch von ganz eigener, intensiver Schlüssigkeit. Man sitzt in einem Bewusstsein, das in fast nüchterner Verzweiflung versucht, sich in der Welt zurechtzufinden, und die Erfahrung von Verlorenheit und Orientierungshoffnung transportiert sich beim Lesen unmittelbar. Wie das geschieht, das lässt – wenn man solche Vergleiche schon anstellen will – eher an David Foster Wallace denken als an Pynchon. Wie bei Foster Wallace liegt auch bei Frank Witzel ein großer existenzieller Schmerz hinter der manchmal überspannten Konstruktion, und die wiederum erscheint wie eine komplexe Reaktion auf den Schmerz.

Weitermachen, was sonst?

"Die fernen Orte des Versagens" ist ein erstaunliches Buch, das die Möglichkeiten der Literatur dem Zweifel aussetzt und trotzig daran festhält, weiterzumachen. Das Risiko des Scheiterns beschreibt es nicht nur, sondern geht es ein. Penetrant bohrend, die Gedankendringlichkeit immer noch eine Drehung weiterschraubend, auch da, wo sie gar nicht so genau weiß, wohin sie eigentlich will. Einfach, weil es nicht anders geht.

Bleibt die Frage, ob man sowas tatsächlich lesen kann. Die Antwort lautet: Man kann. Und es lohnt sich unbedingt.

Frank Witzel: "Die fernen Orte des Versagens" ist bei Matthes & Seitz erschienen.

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