Der russische Präsident am 26. Oktober beim Besuch von Roscosmos
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Wladimir Putin

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"Keiner macht unnötige Bewegungen": Wirbel um Putin-Gerüchte

Kremlsprecher Dmitri Peskow muss sich mit "absurdem Informationsquatsch" herumschlagen, der das Netz beschäftigt, bis hin zu Putins "Ableben". Doch selbst Dementis sorgen für Schlagzeilen: Warum ignoriert der Kreml die Fake News nicht?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Alle haben gelacht, wir machen weiter wie gewohnt", sollen hochrangige Kreml-Mitarbeiter gesagt haben, als sie vom neuesten "heißen" Gerücht erfuhren, berichtet die gewöhnlich gut unterrichtete Journalistin Ekaterina Winokurowa. In einem abendlichen Telefonat mit der kremlnahen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti musste Putins Sprecher Dmitri Peskow jedenfalls wieder mal "absurden Informationsquatsch" dementieren.

Ein viel gelesener Blogger mit rund 400.000 Fans ("Geheimdienst-General") der ohne jeden Beleg seit Monaten behauptet, Putin sei krank, ließ ihn jetzt sogar "sterben" und beklagte einen "Putsch", übrigens mit absurder "Logik": Solange Putin lebe, sei es ja in gewisser Weise legitim, in dessen Auftrag "Doppelgänger" einzusetzen, wenn das Original jedoch gestorben sei, handle es sich definitionsgemäß um einen Staatsstreich. Alle weiteren dargebotenen farbenfrohen Einzelheiten sind eher Realsatire, die es mit den zahlreichen Anekdoten um Stalins Ableben aufnehmen könnten. Während dem eifrigen Märchenerzähler kaum jemand Glauben schenkt, fragen sich viele, warum der Kreml den obskuren Blog nicht einfach ignoriert, sondern jetzt schon zwei Mal hintereinander dazu Stellung nahm.

"Kampf um die Nähe Putins verschärft"

"Schwerwiegende" publizistische Folgen wurden im Kreml nicht befürchtet, heißt es bei der erwähnten Insiderin Winokurowa unter Berufung auf Informanten, auch ein spezielles Gesetz, dass "Fälschungen über den Gesundheitszustand von hochrangigen Personen" unter Strafe stellt, soll es demnach nicht geben, das werde das allgemeine Interesse an solchen Spekulationen nur unnötig erhöhen. Solche nüchternen Einordnungen können andauernde Zweifel allerdings nicht zerstreuen: "Wenn Putin im Kreml arbeitet (wie Peskow behauptet), warum findet der Sicherheitsrat dann per Videokonferenz statt?" fragt sich ein Blogger, der ergänzt, alle wichtigen Teilnehmer könnten doch in zehn Minuten im Kreml sein: "Es überrascht mich jedes Mal aufs Neue."

In einem der meist gelesenen Telegramm-Blogs, "Russland kurzgefasst" (500.000 Abonnenten), wird spekuliert: "Die Mythologisierung der 'Putin-Krankheit' weckte sowohl bei der Opposition als auch im Westen die Erwartung, dass Putins Ende unmittelbar bevorstehe. Der [jetzt kolportierte] 'Tod Putins' könnte bedeuten, dass sich der Kampf um die Nähe zu Putin erneut verschärft hat. Vor einigen Tagen berichtete ein Blog, dass Putin aktiv daran arbeite, ein neues Team aufzubauen." Nicht wenige vermuteten, Putins Leute wollten mit Gerüchten über dessen "Tod" einfach nur die Stimmung testen oder seien dabei, den eigentlich langweiligen russischen Präsidentschaftswahlkampf als "Dauerattraktion" zu inszenieren.

"Psychotherapie für Unzufriedene"

Peskow habe zwar betont, dass Putin "lebendiger sei als so manch anderer", amüsierte sich der "Meister der Feder" (56.000 Fans), gab aber zu bedenken, dass der Kremlsprecher jedes Mal, wenn er auf das Thema eingehe, nicht nur das beabsichtigte Dementi unter die Leute bringe, sondern wider Willen auch das zugrundeliegende Gerücht: "Es ist klar, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe sein wird und noch stärker gespalten sein wird als zuvor in diejenigen, die an die Wahrheit glauben, und diejenigen, die lieber an einer anderen Version festhalten oder daran zweifeln." Für seinen Wahlkampf müsse Putin einen "Neustart des überhitzten Motors" sicherstellen, um nicht zur "Geisel von Stagnationsprozessen" zu werden.

Der Politologe Andrej Schalimow argumentiert, es sei zwar "beängstigend", aber eigentlich sei es völlig egal, ob "der Putin, der 2000, 2004 und sogar noch 2012 gewählt wurde, lebt oder tot" sei. Der Putin von 2018 und insbesondere der von 2023 sage nämlich "viele Dinge, die im Gegensatz zu dem stehen, wofür er einst als Führer des Landes bewundert und viele Male wiedergewählt" worden sei: "Putin ist keine Person mehr, er ist ein Konzept, ein Konstrukt, ein Meme. Und das alles ist so dicht gewebt, dass, wenn man etwas herausschneidet, die Struktur selbst immer noch erhalten bleibt und funktioniert. Im Laufe der Jahre ist Putins Machtapparat eingetrocknet, das Knochengerüst bleibt bestehen und die Weichteile sind irgendwohin verschwunden." Putin sei zum "Avatar" geworden, dessen Äußerungen "für das Wahlergebnis nicht wichtig" seien.

"In Gerüchten materialisiert sich das Unbewusste"

Der im Ausland lebende prominente Politologe und Kremlkritiker Abbas Galljamow kommt in seiner Analyse zum Fazit: "Gerüchte sind eine Form, durch die sich das kollektive Unbewusste materialisiert. Gerüchte sind verbalisierte Wünsche einer Vielzahl von Menschen. Es ist seit langem bekannt, dass die Anzahl der Gerüchte direkt proportional zum Interesse an dem Thema und umgekehrt proportional zum Grad des Vertrauens in offizielle Quellen ist, die sich zu diesem Thema äußern. Das Interesse am Thema Putins Gesundheit ist enorm. Da die Gesellschaft nicht daran glaubt, ihren geliebten Präsidenten durch Wahlen loszuwerden, können wir nur auf einen Herzinfarkt hoffen" Jeder wisse, dass die Russen ihren Behörden kein Vertrauen schenkten. Die Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen, sei keineswegs "aus dem Nichts" entstanden: "Nach Peskows heutigen Dementis dachte sogar ich: 'Was wäre, wenn?!'"

Das Interesse an dem eingangs erwähnten fantasiereichen Blog sei "einerseits überraschend, andererseits vorprogrammiert", urteilt einer der Beobachter. Keiner mache derzeit "unnötige Bewegungen", in Erwartung einer größeren personellen Neuaufstellung nach den Wahlen im März. Es gehe um Lesestoff für "Liebhaber ausgefallener Plots", die gelangweilt seien: "So greifen Fans von Buch- und Filmhelden zu Fanfiction, wenn echte Autoren keine Inhalte produzieren. Diese Welten sind glanzvoll und aufregend, so wie sie ein neuronales Netzwerk wahrscheinlich darstellen würde – mit Schamanen, Blutbädern, Doppelgängern und so weiter. Sie ersetzen die Realität, sorgen für Lebendigkeit und Spannung." Letztlich gehe es um "Psychotherapie für diejenigen, die mit der realen Welt nicht zufrieden" seien: "Für die Behörden ist das eher von Vorteil – schließlich arbeitet der Therapeut mit den Unzufriedenen."

"Selbst die wahnhaftesten Gedanken"

Ein weiterer Experte schreibt: "Viele Vertreter unserer Eliten können sich Russland ohne Wladimir Putin an der Spitze nicht vorstellen und sind deshalb natürlich sehr nervös und fragen sich, wie ihr Handeln aussehen könnte, wenn es zu der erwarteten Entwicklung der Ereignisse die eine oder andere Alternative gäbe. Nun, unter solch schwierigen Bedingungen können ihnen verschiedene Gedanken, selbst die wahnhaftesten, in den Sinn kommen." Immerhin sei es kein Geheimnis, dass es Menschen mit einer "spezifischen Wahrnehmung der Realität" gebe, darunter auch "Wodka-Liebhaber". Der eine oder andere scherzte schon über "47 weniger Haare" auf Putins Kopf und behauptete, die Japaner hätten dessen genaue Ohren-Form mit künstlicher Intelligenz analysiert. Für "Fanfiction" stehen die Tore also weit offen.

Publizist Stanislaw Byschok fragte sich, woher das große Interesse von "Sowjetmenschen" an Doppelgänger-Geschichten wohl stamme, bezugnehmend auf die berühmte Satire "Iwan Wassiljewtisch wechselt den Beruf" von Michail Bulgakow. Dort sorgt ein schrulliger Ingenieur für Verwirrung, weil er Zar Iwan den Schrecklichen mit einer Zeitmaschine in die sowjetische Gegenwart und ein paar Kumpel ins Mittelalter transportiert. Am Ende hat der Techniker alles nur geträumt. Der Stoff wurde 1973 verfilmt. Ebenso gut hätte Byschok Dostojewskis Erzählung "Der Doppelgänger" zitieren können. In der kafkaesken Geschichte wird ein schüchterner Beamter von einem ähnlich aussehenden Menschen ersetzt, der im Gegensatz zu ihm selbst Karriere macht.

"Träume gehen in Erfüllung"

"Als der sechste Putin starb, war ich es leid und ging auf den Markt, wo angeblich einem Internet-Insider feierlich der Status eines ausländischen Agenten verliehen werden sollte", machte sich ein Blogger über die Gerüchteküche lustig. Der Informationsmarkt sei "sehr vielfältig", so ein anderer Beobachter: "Es gibt keine Informationen, die alle unsere Leute brauchen. Jeder nimmt seine eigenen zu sich. Es ist ungefähr so wie auf einem Lebensmittelmarkt. Wenn Sie beispielsweise Gurken und keine Tomaten mögen, ist es sinnlos, mit Ihnen über die Qualität verschiedener Tomatensorten zu diskutieren. Sie werden sich immer noch zu den Gurken hingezogen fühlen. Das Gleiche gilt für Kommentare. Wenn Sie keine qualitativ hochwertigen politischen Kommentare wollen (zumal gerade nicht die richtige Zeit dafür ist und die Experten alle politischen Kommentare aus alten Kühltruhen kramen!), sondern einen optimistischen Kommentar wünschen, wählen Sie einfach die Version des 'Geheimdienst-Generals'." Auf diese Weise gingen "Träume in Erfüllung".

"Das ist politisches Handwerk"

Der "Trick" mit vermeintlich sterbenden Spitzenpolitikern sei ja bereits mit dem tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow "bei allen gut angekommen", so ein russischer Publizist. Offenbar habe da jemand eine "Wiederholung" versucht. Tatsächlich war Kadyrow tagelang Gegenstand von Spekulationen gewesen, er habe potentiell tödliche "Nierenprobleme". Bemerkenswert sei, dass Kremlsprecher Peskow sich in das Putin-Gerücht eingeschaltet habe. Womöglich habe der Kreml damit von ernsteren Themen ablenken wollen: "Das ist politisches Handwerk."

Insgesamt sind Gerüchte, ob haltlos oder nicht, in autoritären Regimen natürlich tendenziell deutlich gefährlicher als in Demokratien, in denen es eine unabhängige, kritische Medienöffentlichkeit gibt. Weil die Medien in Russland durch die Zensur gesteuert sind, was auch den meisten bewusst ist, stellt sich bei jeder Schlagzeile die Frage, was damit beabsichtigt wird. In Netzkommentaren gilt das nicht in derselben Weise, wohl aber, je größer und bedeutender die jeweiligen Kanäle sind. Das erklärt teilweise die Aufregung um den "Geheimdienst-General", womöglich auch deshalb, weil über dessen Identität vielfach gerätselt wird. Scherzbolde mutmaßten bereits, vielleicht sei der ja schon zehn Jahre tot und werde seinerseits von einem "Doppelgänger" ersetzt.

Bemerkenswert, dass sogar der kremlnahe Politologe Sergej Markow über den plötzlichen Tod des chinesischen Ex-Premierministers Li Kequiang (nach offizieller Verlautbarung ein "Herzinfarkt") schrieb: "Der Tod kommt plötzlich. Viele werden glauben, dass das kein Zufall ist. Der Kontext ist hier sehr wichtig." Ein Beispiel dafür, dass unter Regimen wie dem von Putin alle Ereignisse "gedeutet" - und bezweifelt werden.

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