Der russische Präsident prostet mit einem Sektglas
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Wladimir Putin bei einem Empfang im Kreml

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"Viele begannen zu trinken": Patrioten über Russlands "Absturz"

So offen wurde in Russlands Elite selten über Alkohol gestritten: Seit ein bekannter TV-Propagandist wichtige Kreml-Akteure der Trunksucht beschuldigte, tobt ein erbitterter Streit. Manche sehen das Land auf einem "Sturzflug" - mit Putin am Steuer.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Dass sich russische Politiker gegenseitig als Alkoholiker beschimpfen, ist nicht neu, aber wirklich wichtige Polit-Prominenz wurde davon bisher ausgenommen. Jetzt brach der TV-Propagandist Jewgeni Satanowski das Tabu und bezeichnete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, als "Schnapsdrossel". Auch der russische Nahostbeauftragte Michail Bogdanow und Ex-Präsident Dmitri Medwedew wurden von ihm geschmäht. Das löste eine bislang unvorstellbare Debatte über Alkoholmissbrauch an der Spitze aus. Das kritisierte Ministerium sprach offiziell von "bewussten Falschinformationen und beleidigenden Aussagen".

Politologe Konstantin Kalaschew wollte dagegen nach eigenen Worten bei manchen Personen und Äußerungen den Einfluss von Alkohol "deutlich" wahrgenommen haben und schrieb: "Manche Menschen bauen auf diese Weise Stress ab, manchen sich selbst Mut, manche missbrauchen ihn als Beschleuniger für patriotische Reden, manche betäuben sich, manche wollen qualvolle Gedanken verscheuchen, manche setzen sich freiwillig dem Wahnsinn aus."

"Sonst ist das Land nicht zu retten"

Alkohol versöhne Teile der Elite mit der "harten Realität". Ob Sacharowa betroffen sei, könne er zwar nicht beurteilen, so Kalaschew, aber er habe gehört, dass "viele zu trinken begannen und dadurch ihr Bewusstsein stabilisieren": "Die Mischung von Alkohol mit Turbopatriotismus und Geopolitik wird allmählich zur Norm. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Für die künftige 'Normalisierung' werden nun nicht nur Psychotherapeuten, sondern auch Narkologen benötigt. Sonst ist das Land nicht zu retten."

Es spricht für sich, dass der prominente Kreml-Propagandist Sergej Markow in seinem Blog auf solche Vorwürfe öffentlich antwortete. Er bezeichnete die Spekulationen als "Fantasiegebilde", obwohl sich die Elite darüber klar sei, dass die "Zeiten schwierig" seien und womöglich noch schwieriger würden: "Wahrscheinlich haben sie begonnen, weniger zu trinken. Außerdem trinken sie überwiegend trockene Weine – man wird dadurch nicht sehr betrunken. Obwohl es ein paar Cognac- und Whisky-Liebhaber gibt. Fantasieren Sie deshalb nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Nur Rentner trinken viel." Die getadelte Maria Sacharowa sei über jeden Verdacht erhaben, bemerkte Markow, der von seinen Gegnern selbst häufig als "Trinker" beschimpft wird.

"Warum beleidigen sie eine Frau?"

In den Leserkommentar-Spalten wurde vermutet, Sacharowa habe sich womöglich "aus Traurigkeit" dem Alkohol ergeben: "Sie tut mir leid. Um in Ihrer Rolle einigermaßen menschlich zu bleiben, bedarf es einer Ausbildung, die ihr nicht zugänglich war. Da können Sie nur zusammenbrechen und aus Trauer trinken, für eine Weile." Andere wollten sich gleich "gemeinsam mit Mascha" die Kante geben, wieder andere beteuerten, sie hätten die Sprecherin des Außenministeriums noch nie angeheitert gesehen, sie "funktioniere" im Gegenteil sehr gut: "Daher das Fazit, dass sie, wenn sie trinkt, Maß hält und es ihrer Arbeit nicht schadet. Sacharowas Laden ist eben heißer als jeder andere." Ihre "Fäustlinge" seien wund gescheuert, hieß es, da gelte es, den "Schmerz zu ertragen".

Die ganze Debatte sei alkoholgetrieben, mutmaßte ein Leser, schließlich erzeuge das Trinken Neid. "Er redet schlecht über Drogensüchtige", ging ein Leser mit Satanowski ins Gericht. Der Moderator verlor inzwischen seinen Job, doch viele erwarten, dass er nur in einer kurzen "Schaffenspause" ist. Es gab auch Kommentatoren, die Satanowski übles Macho-Verhalten vorwarfen: "Da kannst du dich nur noch wundern: Alle wissen genau Bescheid! Haben Sie etwa [mit Sacharowa] am selben Tisch gesessen und getrunken? Ich denke, dass die Kommentare hauptsächlich von Männern stammen. Warum beleidigen sie eine Frau?" Vom Zoff zwischen einer "Kröte und einer Viper" war die Rede, und ein offenbar gebildeter Russe reagierte mit einem Zitat des Klassikers Nikolai Nekrassow (1821 - 1878): "Ich näherte mich dem Land, in dem sie [den Erfinder des Buchdrucks] Gutenberg hassen und eine Vorliebe für Scheiße haben, aus Richtung Königsberg."

"Absolut jeder denkt so"

Auch ein Gedicht des sowjetischen Avantgarde-Dichters Wladimir Majakowski (1893 - 1930) wurde als Beleg für ein altes Problem genannt. Eine Arbeiterfamilie sitzt in dem Werk mit dem Titel "Stimmen Sie für Kontinuität" bei 40-prozentigem Wodka gemütlich zusammen und verprügelt sich "wie selbstverständlich, schablonenhaft": "Wir nannten es Alltag, sie nannten es Urlaub." Ein weiteres literarisches Zitat, auf das hingewiesen wurde, stammt vom modernen Autor Wladimir Makanin (1937 - 2017: "Jeder hält uns für eine wilde Horde/ auf unserem besonderen Weg,/ und wir sind auch noch stolz darauf,/dass wir mit unseren Visagen allen einen Schrecken einjagen."

Letztlich habe TV-Promi Satanowski nur ausgesprochen, was sowieso fast alle dächten, schrieb jemand: "Ja, das halbe Land redet am Küchentisch so über unsere Elite, nur in einer noch deftigeren Sprache. Und absolut jeder denkt so. Warum also wurde er gefeuert?" Der eine oder andere wünschte die "Pest auf beide Häuser", es wurde gewarnt: "Es ist an der Zeit, dass sich die Super-Promis an die Kraftausdrücke der Menschen gewöhnen, denn es kommen andere Zeiten." Kremlnahe Patrioten dagegen urteilten: "Wie ein amerikanischer Präsident über einen seiner Leute sagte: Ja, er ist ein Betrunkener, aber er ist unser Betrunkener."

"Erinnern Sie sich, wie der Wodka knapp wurde?"

Dazu passt die aktuelle Debatte in Russland über einen möglichen Online-Verkauf von Alkoholika und die Privatisierung des bisherigen Staatsmonopolisten für Ethylalkohol: "Es ist klar, dass ein Mangel an Wodka zum richtigen Zeitpunkt das Land viel schneller und sicherer in die Luft jagen kann als Unterbrechungen bei Treibstoff und Schmiermitteln. Wenn alle Brennereien privatisiert werden und plötzlich auf irgendjemandes Befehl die Arbeit einstellen sollten, wird Alkohol in Russland verschwinden. Mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Erinnern Sie sich, wie unter Gorbatschow der Wodka knapp wurde? Und was geschah dann?"

Angstvoll schauen manche auf anstehende Preiserhöhungen für Wodka von bis zu sieben Prozent: "Wodka hält in gewisser Weise die nationale spirituelle Verbindung aufrecht. Dem einfachen Volk bleibt außer Alkohol fast keine andere Möglichkeit mehr, seine Freizeit zu gestalten und nervöse Spannungen abzubauen. Das sind Zeiten, in denen der Preis für Wodka gesenkt und nicht erhöht werden muss. Auch hat der Preisanstieg für Wodka immer zu einer Steigerung der Schwarzbrennerei, einem Übergang zu Ersatzstoffen und in einigen Fällen sogar zum Missbrauch verschiedener technischer Flüssigkeiten geführt. Unter solchen Bedingungen ist es kaum möglich, über eine Verbesserung der Demografie zu sprechen."

"Putin trug ein Luftzug in die Pilotenkabine"

Angesichts solcher Analysen und zunehmender Animositäten unter den Propagandisten wundert es nicht, dass sich russische Blogger gegenseitig in Untergangsszenarien überbieten. Politologe Wladimir Pastuchow, der in London lehrt, sieht das Land bereits seit 100 Jahren im Sturzflug: "Es war nicht Putin, der uns alle in ein Flugzeug setzte, das in eine historische Talfahrt trudelte. Kurz gesagt, er war nur einer von vielen in dieser unglücklichen Gemengelage. Gemeinsam mit uns allen genoss er zunächst zehn Jahre lang die Süße der Schwerelosigkeit, die manche für Freiheit hielten, und erlebte wie wir alle den Schock, als die Überlastung begann. Doch dann trug ihn ein Luftzug in die Pilotenkabine, und er erwies sich als verrückter Kamikaze, der mit beiden Händen das Lenkrad umklammerte und das Verkehrsflugzeug der russischen Zivilisation direkt Richtung Erde schickte. Naja, vielleicht lässt er sich noch vom Steuerknüppel lösen."

"Jetzt fliegen die Teile der Maschine in alle Richtungen"

Andere Blogger sehen es ähnlich: "Wir stürmen vorwärts, aber unser Lenkrad wird durch die Luft geschleudert und Teile des Fahrzeugs beginnen über Schlaglöchern auseinanderzufliegen. Gleichzeitig gibt es nicht die geringste Klarheit darüber, wohin wir letztendlich eilen, und daher ist nicht klar, wo wir abbiegen oder bremsen sollen. Unser Präsident hält sich dort auf, wo die Siege sind, und in allem anderen heißt es: ''Wir bitten um Ihr Verständnis.'" Russland sei jedoch leider kein "bescheidener Volkswagen Käfer", sondern ein Koloss: "Und der rast jetzt mit durchgetretenem Gaspedal, aber ohne Fahrer los. Unsere Maschine zerstört zur Hölle noch mal alles, was sich ihr in den Weg stellt: diejenigen, die anderer Meinung sind, illoyal, nicht loyal genug, oder umgekehrt – entweder zu patriotisch oder auch nur zufällige Passanten. Jetzt fliegen die Teile der Maschine in alle Richtungen."

Über eine "erhebliche Verwirrung" wird angesichts der Alkoholismus-Vorwürfe spekuliert: "Das Land befindet sich bereits in einer ernsthaften Spannung, die manchmal die emotionalsten Bürger dazu veranlasst, anderen Bürgern scharf entgegenzutreten oder sie sogar anzugreifen, manchmal auf sie einzuschlagen und radikale Maßnahmen gegen sie zu fordern."

"Von Russland kaum noch die Hälfte übrig"

Der vielfach gescholtene Jewgeni Satanowski selbst sagte übrigens nach dem Aufruhr, den er auslöste, er wolle mit 64 nicht mehr einen Standpunkt ändern, den er seit seinem 24. Lebensjahr einnehme: "Da das Land vor drei Jahrzehnten vor seinen Augen auseinanderfiel, möchte der Autor auf gar keinen Fall noch einmal auf denselben Rechen treten. Auf dieser Grundlage geißelt er alle, die er als Idioten und Verräter, Karrieristen und Diebe, Agenten des Feindes in Schlüsselpositionen und einfach als Kriminelle betrachtet, die Macht und Geld von denen an sich gerissen haben, die er genau bezeichnet, und nutzt dabei das Vokabular, an das er von Jugend an gewöhnt ist."

Satanowski entschuldigt sich

Zwar sei er in der Lage, ein ganzes Gespräch mit Schimpfwörtern zu bestreiten, aus Rücksicht auf "Frauen und Jugendliche" wolle er davon jedoch absehen: "Was können wir über die heutige Zeit sagen, in der die Worte und Taten von Analphabeten und schwachsinnigen Idioten, auf die der Autor notwendiger Weise antwortet, leicht die Überreste eines Landes begraben können, von dem kaum noch die Hälfte übrig ist! "

Nach zwei Tagen sah der unter dem Blogger-Namen "Old Hellboy" auftretende Satanowski wohl ein, dass er sich in seiner Wortwahl vergriffen hatte. Er entschuldigte sich bei Sacharowa, sei es aus eigenen Stücken, sei es, weil er dazu gedrängt wurde: "Es tut mir aufrichtig leid. Dabei handelte es sich um unangemessene Emotionen im Zusammenhang mit der Gesamtlage. Ein eingestandener Fehler ist zur Hälfte wiedergutgemacht. Bitte akzeptieren Sie diese Worte als Entschuldigung." Die russische Generalstaatsanwaltschaft will die Angelegenheit überprüfen. Witali Borodin, zuständig für Korruptionsbekämpfung, ist der Meinung, dass Satanowski die "Ehre und Würde von Beamten" herabgewürdigt und sich somit strafbar gemacht hat. Er schrieb eine entsprechende Anzeige.

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