Wladimir, Pozzo und Estragon wanken ihrer Zukunft entgegen
Bildrechte: Sebastian C. Hoffmann/Theater an der Rott

Stützen der Gesellschaft: Warten auf Godot

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Alles Schwarz vor Augen: "Warten auf Godot" in Eggenfelden

Gott ist tot und hat vergessen, Zeit und Raum mitzunehmen: Samuel Becketts Klassiker des absurden Theaters wird im Theater an der Rott zu einer beklemmend aktuellen Expedition an den Kältepol der Menschheit. Was von Idealen bleibt, sind Möhren.

Über dieses Thema berichtet: Kulturleben am .

Schwarze Löcher gibt es im Weltraum ja offenbar wirklich, immerhin wurde neulich sogar eines fotografiert, aber was dort konkret passiert, das wissen die Physiker bis heute nicht so genau zu sagen. Weil die herkömmlichen Naturgesetze nicht mehr gelten, wenn Raum und Zeit zusammenbrechen und sich unendlich verdichten, sind Aussagen über die dortigen Vorgänge schwierig bis unmöglich.

Diese Grenze wird gemeinhin als "Ereignishorizont" bezeichnet, und offenbar gibt es so eine Grenze auch im zwischenmenschlichen Bereich: Hinter dem Stacheldraht, also im Lager, gelten alle Umgangsformen, alle Werte und alle Verabredungen nicht mehr. Was dort vor sich geht, kann der Verstand nicht fassen und das Herz nicht aushalten: Darum geht es in Samuel Becketts modernem Klassiker "Warten auf Godot" von 1953.

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Menschen hinter dem Ereignishorizont

Im Theater an der Rott im niederbayerischen Eggenfelden wird dem Publikum buchstäblich schwarz vor Augen. Regisseur Andreas Schmitz und Ausstatterin Lejla Ganic nehmen die Zuschauer mit an den Kältepol der Menschheit, dorthin, wo nur noch die Trümmer der guten Absichten herumliegen, in jeder Richtung entsetzliche Abgründe gähnen und von den einstigen Idealen allenfalls rote und weiße Möhren übriggeblieben sind.

Die Landstreicher Wladimir (Alexander Mitterer) und Estragon (Norman Stehr) haben weder Vergangenheit, noch Zukunft, ihre Existenz ist auf einen winzigen Punkt Langeweile zusammengeschmolzen. Ja, sie warten auf Godot, den Mann mit dem langen, weißen Bart und den vielen guten Ratschlägen da oben im Himmel, aber der lässt sich entschuldigen.

Beckett schrieb sein sprichwörtlich gewordenes absurdes Stück ab 1948 unter dem Eindruck des Grauens in den Konzentrationslagern. Der Sinn des Lebens mutierte dort bekanntlich zum Wahnsinn des Todes und der Quälerei. Lauter Menschen hinter dem Ereignishorizont, im Ausnahmezustand, als Täter und Opfer. Das lässt sich nur mit Sarkasmus ertragen, und davon wird an diesem knapp dreistündigen Abend viel geboten. Der Foltermeister Pozzo (Georg Luibl) tickt zum Beispiel nicht ganz richtig, wie sich beim Abhören seiner Brust herausstellt: Hat sein Herz oder seine Taschenuhr versagt?

"Lohengrin" mit Nebelschwaden

Lucky, der Sklave (Eduard Zhukov), tanzt und denkt auf Befehl, ist aber auch ziemlich bissig und nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe aufrecht zu gehen. Und im Koffer, den er neben Peitsche und Gartenstuhl zu schleppen hat, ist Sand. Der passt zu den kargen Felsen, die Ödnis verbreiten, und natürlich zum zerfaserten Wurzelwerk der pompösen Weltesche, die aus dem Bühnenhimmel ins Bild hineinragt - als ob demnächst ein Musikdrama von Richard Wagner aus der germanischen Mythologie zu erwarten ist. Folgerichtig erklingt dessen Musik, zwar nicht aus dem "Rheingold", sondern aus dem "Lohengrin", effektvoll von Nebelschwaden begleitet. Was das alles soll, zeigen die Hakenkreuzfahnen, die "irrtümlich" kurz gehisst werden, dabei wollte Wladimir doch nur ein paar Mohrrüben auf die Erde zaubern - oder waren es Radieschen?

Zusammenstürzende Menschlichkeit

Selten wurde die absurde Beckett-Parabel so überdeutlich in die NS-Lagerwelt versetzt, also in eine Zeit und an einen Ort, die wirklich von Godot/Gott verlassen schienen. Was aus der Tragödie eine Farce macht: Wladimir und Estragon wollen Dantes berühmtes Höllen-Motto "Lasset alle Hoffnung fahren" partout nicht unterschreiben. Sie hoffen gegen jede Vernunft, gegen Zeit und Ort, gegen den Ereignishorizont. Ja, sie wollen sich aufhängen, scheinen es mit der Suche nach einem belastbaren Strick aber nicht allzu eilig zu haben.

Das berührt, das ist mal zum Weinen und mal zum Lachen, vor allem aber furchtbar aktuell in Zeiten des Krieges und der in sich zusammenstürzenden Menschlichkeit. Schrecklich, dass die Welt ihre Absurdität in 70 Jahren nicht nennenswert hinter sich ließ. "Jedem das Seine", seufzt Wladimir, ganz nebenbei den berüchtigten Spruch am Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald zitierend. Wenn irgendwo jemand anfängt zu weinen, hört an anderer Stelle halt jemand auf, beobachtet er mit eisiger Genauigkeit, als ob sich die emotionalen Ausschläge der Menschheit gegenseitig aufheben, so dass nur noch die Nulllinie übrig bleibt.

Anders als Brecht schrieb Beckett keine Lehrstücke, wollte nicht die ideologische Richtung angeben, wo der unsichtbare Godot womöglich doch noch Erlösung verheißt. Den Tunnel am Ende des Silberstreifs muss im absurden Theater jeder schon in sich selbst entdecken, und das ist im Theater an der Rott gerade besonders spannend. Viel Beifall für ein hervorragendes Ensemble in einer packenden Inszenierung.

Wieder am 2., 3., 6. und 8. März am Theater an der Rott in Eggenfelden, weitere Termine.

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