Gedenkkränze an der Stelle, an der es 2016 in Bad Aibling zu einem schweren Zugunglück mit 12 Toten gekommen war
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Gedenkkränze an der Stelle, an der es 2016 in Bad Aibling zu einem schweren Zugunglück mit 12 Toten gekommen war

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Zugsicherung: Seit Bad Aibling nichts dazu gelernt?

Wie werden Züge im Notfall gestoppt? Wie kann man Folgen menschlichen Versagens abmildern? Nach Recherchen des BR-Politikmagazins Kontrovers wäre ein Nachrüsten von Sicherungssystemen sinnvoll.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Am 14.2.2022 kollidieren zwei S-Bahnen bei Schäftlarn im Süden von München. Ein Fahrgast stirbt, rund 20 Menschen werden verletzt, zum Teil schwer. Knapp 100 Personen sind in den Zügen.

Elisabeth Jänchen wohnt direkt neben der Unfallstelle. Sie half den Opfern am Abend des Unglücks mit Decken und Getränken. Der Schock sitzt immer noch tief. "Das dauert jetzt, bis ich wieder in die S-Bahn einsteige. Das kommt einem erst, wie gefährlich das sein könnte." Ihr Vertrauen in die S-Bahn ist tief erschüttert.

Parallelen zum Zugunglück von Bad Aibling

Das Zugunglück von Schäftlarn erinnert in einigen Punkten an jenes von Bad Aibling im Jahr 2016. Damals kollidierten auch zwei Züge auf einer eingleisigen Strecke. Und das Sicherungssystem der Bahn wurde händisch ausgehebelt, so wie es wohl auch in Schäftlarn der Fall war.

Für das Unglück von Bad Aibling musste sich der Fahrdienstleiter verantworten. Nach dem Unglück bei Schäftlarn wird gegen den Triebwagenführer ermittelt. Er soll möglicherweise das automatische Bremssystem deaktiviert haben und dann weitergefahren sein. Ein solches Handeln erfordert eigentlich vorab eine genaue Absprache mit dem Fahrdienstleiter. Wo genau der Unfallgrund zu suchen ist, steht noch nicht fest.

Versäumnisse bei der technischen Ausstattung?

Viele Fragen, die sich bereits nach dem Unglück von Bad Aibling gestellt haben, sind bis heute nicht gelöst:

Die dringlichste ist nach wie vor, warum es auf vielen Strecken der Deutsche Bahn nur ein Sicherungssystem gibt. "Das Problem daran ist, dass, wenn man einen Schalter umlegt, quasi alles aus ist und nicht irgendein zweites davon unabhängiges Sicherungssystem zumindest dann noch dafür sorgt, dass man so eine Art Notsicherung noch hat", kritisiert Thomas Strang vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt.

Er ist Spezialist für Sicherungssysteme und hat sich unter anderem mit dem Unfall von Bad Aibling beschäftigt. Dass es nun erneut zu einer Kollision von zwei Zügen auf eingleisiger Strecke gekommen ist, hält Strang für ein Versäumnis bei der technischen Ausstattung.

"Ich bin der Meinung, dass es nicht sein kann, dass, wenn die Sicherungstechnik aus welchen betrieblichen Gründen auch immer ausgeschaltet werden muss, dann nur noch ein Mensch für die Sicherheit von so vielen Leben verantwortlich ist. Das ist ein Fehler im System." Thomas Strang vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt

Kritik von Bahn-Mitarbeitern

Das BR-Politikmagazin Kontrovers hakt bei der Bahn nach, ob zumindest jetzt auf der Unfallstrecke zusätzliche Sicherungssysteme geplant seien. Eine konkrete Antwort liefert die Bahn nicht, allgemein heißt es: "Wir entwickeln unsere Sicherungstechnik kontinuierlich weiter und stehen dazu auch im Austausch mit Universitäten, Verbänden und der Branche."

Doch so ein Austausch kann dauern. Reagiert die Bahn zu schleppend? In einem Internet-Forum, auf dem sich auch viele Bahnmitarbeiter austauschen, plädieren viele für neuere Systeme. "Ein modernes Zugbeeinflussungssystem hätte den gestrigen Unfall verhindert", heißt es da. Einer fordert: "Wir bräuchten in Deutschland endlich eine Sicherungstechnik, die ohne Rückfallebenen auskommt."

Unglücksstrecke birgt Gefahren

Lina Pakan saß in einer der beiden S-Bahnen, die in Schäftlarn aufeinanderprallen. Sie berichtet in Kontrovers davon, dass es kurz vor dem Unfall offenbar Probleme mit der Technik gab. "Das erste Mal war es vor Pullach, da hat der Fahrer schon eine Durchsage gemacht, dass er wegen einer Signalstörung am Bahnübergang stehen bleiben muss. Er weiß aber auch nicht genau, was los ist. Das ist dann noch zwei Mal passiert. Beim letzten Mal ist dann der andere Zug in uns reingefahren." Signalstörungen gibt es auf der Unglücksstrecke immer wieder.

Klar ist auch: Vor ein paar Monaten ereignete sich in der Nähe des Unfallorts ein Fast-Zusammenstoß. Auch hier überfährt der Fahrer offenbar ein rotes Signal. Dann erfolgt eine Vollbremsung. "Ich habe Angst. Wenn die wieder fährt – was passiert als Nächstes? So nah aufeinander: Eine verhinderte Karambolage und eine heftige Karambolage. Da frag ich mich schon", sagt Lina Pakan.

Die Münchner S-Bahn betrachtet den Vorfall vom Sommer dagegen nicht als Problem: "Denn nach dem Erkennen der Gefahrensituation stoppten beide S-Bahnen und kamen in sicherer Entfernung von ca. 150 Metern voneinander zum Stehen."

Nichts tun ist keine Option

Laut Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung wurden im Jahr 2020 bundesweit 548 Haltesignale überfahren – und das sind nur die gemeldeten Fälle.

Thomas Strang vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt kann die schleppende Investitionspolitik der Bahnbetreiber nicht nachvollziehen. "Das kann nicht sein, dass wir jetzt diese Sicherungstechnik, die wir heute haben, so lassen. Weil wir sagen, wir kriegen in 15, 20 Jahren ein anderes System. Wir müssen auch bis dahin schon die Sicherheit erhöhen. Man sieht ja, was passiert, wenn man nichts tut. Es sind einfach noch Lücken im System da."

Lücken, die die Bahn schnell schließen muss, bevor das nächste schwere Zugunglück passiert.

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