Eine Wahlhelferin zeigt am 29.03.2017 in einem Wahllokal in München einen Stimmzettel mit den beiden Optionen "evet" ("ja") und "hayir" ("nein").
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Eine Wahlhelferin zeigt am 29.03.2017 in einem Wahllokal in München einen Stimmzettel mit den beiden Optionen "evet" ("ja") und "hayir" ("nein").

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Vor der Wahl: Angespannte Stimmung in der türkischen Community

Nervös und aufgeheizt – kurz vor den Wahlen in der Türkei blicken Türken und türkischstämmige Menschen in Bayern mit Spannung auf die Abstimmung. Anhänger feiern Erdoğan als "großen Meister". Die Opposition hofft auf einen Neustart.

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Nervös, angespannt, aufgeheizt – einen Tag vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei blicken Türken und türkischstämmige Menschen in Deutschland und Bayern mit Spannung auf die Wahl. Präsident Recep Tayyip Erdoğan präsentiert sich im Wahlkampfendspurt als starker Mann - erst am Freitag änderte er sein Profilbild auf Twitter - und blickt seine Follower nun Top-Gun-like in blauer Fliegerjacke und Sonnenbrille an. Doch ob Erdoğan die Türkei nach 20 Jahren an der Macht weiter in die Zukunft führen kann, daran gibt es zunehmend Zweifel.

Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP, der von einem Sechserbündnis unterstützt wird, geht am Sonntag als Favorit ins Rennen. Die prokurdische HDP hat ihre Wähler zudem aufgerufen, Kılıçdaroğlu zu unterstützen. Rund 20 Prozent der türkischen Bevölkerung sind kurdisch - wie bei vergangenen Wahlen wird erwartet, dass sie den entscheidenden Unterschied ausmachen könnten. Laut Umfrageinstitut Metropoll lag Erdoğan zuletzt bei 44 Prozent, sein Herausforderer bei 46 Prozent.

"Erdoğan ist ein großer Meister"

Erdoğans treue Anhänger sind sich trotz der letzten Umfragen sicher, dass der 69-Jährige wiedergewählt wird. "Natürlich gewinnt Erdoğan", sagt ein Koch aus München. "Erdoğan ist ein großer Meister, die anderen haben keine Chance." Auch ein Schmuckladenbesitzer aus dem Bahnhofsviertel in München glaubt, dass Erdoğan die Wahl wieder für sich entscheiden wird. "Er steht auf eigenen Beinen, ist stark - das ist meine Meinung", sagt der Endfünfziger und zieht an seiner Zigarette. In den Wahl-Flyern, die auch in München verteilt wurden, bewirbt die AKP - also die Partei von Erdoğan - große Infrastrukturprojekte wie Schnellzüge und verweist auf Milliarden-Investionen. Die AKP in München reagierte nicht auf eine Gesprächsanfrage.

Andere Wähler aus München haben dem einflussreichsten Politiker seit Mustafa Kemal Atatürk, der die Republik vor 100 Jahren gründete, zwar ihre Stimme gegeben, wenn auch nicht aus voller Überzeugung. "Die Türkei ist noch nicht bereit, für einen Machtwechsel", sagt ein zweifacher Familienvater. "Deshalb habe ich Erdoğan zähneknirschend wiedergewählt."

Rangliste der Pressefreiheit: Türkei auf Platz 165

Was braucht es denn noch alles? Das fragen sich dagegen Erdoğan-Gegner. Nach dem Erdbeben im Februar mit mindestens 50.800 Toten in der Türkei wurde Erdoğan Versagen im Krisenmanagement vorgeworfen. Das Land leidet zudem unter einer hohen Inflation. Die Justiz gilt als unterwandert, die Institutionen als ausgehöhlt, Freiheiten und Rechte als eingeschränkt. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen befinden sich derzeit mindestens 32 Medienschaffende in Haft. Auf der von der Organisation erhobenen Rangliste der Pressefreiheit hatte sich die Türkei zuletzt um 16 Plätze verschlechtert und belegt nun Platz 165.

Gülbey Kılıç, Vorsitzender der CHP in München, sitzt unter einem großen Bild von Kılıçdaroğlu: Er glaubt und hofft, dass der 74-Jährige die Wahl im ersten Wahlgang für sich entscheiden wird. Gewinnt am Sonntag kein Kandidat die absolute Mehrheit, treten die beiden Erstplatzierten zwei Wochen später in einer Stichwahl gegeneinander an. "Man kann nichts in den sozialen Medien schreiben", beklagt Kılıç. "Wenn man etwas schreibt und in die Türkei fährt, dann hat man Angst." Er schüttelt den Kopf, wenn er an Deutsch-Türken denkt, die Erdoğan wählen. "Die Menschen leben hier in einem demokratischen Land und trotzdem wählen sie Erdoğan, das verstehe ich überhaupt nicht."

"Ich hoffe, dass am Tag der Wahl nichts Schlimmes passiert"

Die Stimmung in der türkischen Community ist kurz vor der Wahl angespannt, sagen viele Menschen, so auch Dilek, eine 38 Jahre alte Juristin aus München. "Man hat auf der einen Seite die zum Teil sehr aggressiven Regierungsbefürworter, auf der anderen Seite die Oppositionellen." Die Menschen hätten "eine gewisse Vorsicht und teilweise auch eine Furcht", meint auch Serzan Çelik von der Kurdischen Gemeinde in Bayern.

Eine junge Filmstudentin aus Augsburg sagt: "Ich glaube, wenn Kılıçdaroğlu gewinnt, würde mir ein Stein vom Herzen fallen, aber ich habe auch Angst vor der Reaktion der jetzigen Regierung." Und Mert aus Berlin meint: "Ich hoffe, dass am Tag der Wahl nichts Schlimmes passiert."

Mit dieser Befürchtung ist der Student nicht alleine: "Die Tatsache, dass die Regierung zum ersten Mal so nahe daran ist zu verlieren, lässt uns Probleme befürchten", sagt die türkische Juristin Ilke Yakupoğlu im Gespräch mit der Agentur AFP. Vor wenigen Tagen hatte der türkische Innenminister Süleyman Soylu die Wahl mit einem "politischen Putschversuch" gegen Erdoğan verglichen.

Junge Frauen wünschen sich mehr Rechte

Vor allem junge Menschen und Frauen hoffen auf einen Neustart. "Ich bin für Kılıçdaroğlu, weil Erdoğans Politik überhaupt nicht dem 21. Jahrhundert entspricht und auch gar nicht für junge Menschen und erst recht nicht für junge Frauen wie mich ausgelegt ist", sagt die Filmstudentin. "Ich bin für Kılıçdaroğlu, weil die Menschen ohne Spaltung und Diskriminierung leben und ihre Hoffnung zurückgewinnen sollen", meint die 31 Jahre alte Elvan. Sie ist Industrieingenieurin und erst vor wenigen Jahren von Izmir nach München gezogen. Auch ihre Freundin Deniz, die vom Bosporus an die Isar gekommen ist und für einen internationalen Konzern arbeitet, unterstützt Kılıçdaroğlu, "weil ich die Rechte der Frauen unterstütze und möchte, dass sie auch nach den Wahlen frei und gleich sind".

Doch viele oppositionelle Wählerinnen und Wähler in Deutschland befürchten, dass die Wahlen in der Türkei nicht fair ablaufen werden. "Ich glaube, dass Erdoğan gewinnen wird, weil er die besseren Mittel hat, für sich im Wahlkampf zu werben", sagt eine türkischstämmige Berlinerin. Im April erhielt Erdogan nach Angaben von Oppositionsmitgliedern bei der Rundfunkaufsicht fast 33 Stunden Sendezeit beim Fernsehsender TRT. Kılıçdaroğlu war gerade einmal 32 Minuten zu sehen. Außerdem versprach der Präsident im Wahlkampf zahlreiche Vergünstigungen wie billigere Strom- und Gastarife und einen höheren Mindestlohn.

"Man kann sich nicht sicher sein, ob die Wahl demokratisch ist", meint ein Student aus Berlin und ein junger Wahl-Münchner befürchtet, dass die Regierung "schummeln" könnte. Doch die Ánhänger von Kılıçdaroğlu wollen die Hoffnung nicht verlieren: "Der Slogan der Opposition ist ja 'Der Frühling wird kommen' und die Türkei und die türkischen Bürger und Bürgerinnen haben diesen Frühling mehr als verdient", sagt Dilek.

Mit Informationen von AP und dpa

Im Audio: Stimmen von Türkinnen und Türken vor der Wahl

Ein Wähler (hinten) gibt im Türkischen Generalkonsulat seine Stimme für die Parlaments- und Präsidentenwahl in der Türkei ab.
Bildrechte: picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd
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Ein Wähler (hinten) gibt im Türkischen Generalkonsulat seine Stimme für die Parlaments- und Präsidentenwahl in der Türkei ab.

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