Länderflaggen von Deutschland und Russland auf einer gebrochenen Wand.
Bildrechte: picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer

Länderflaggen von Deutschland und Russland auf einer gebrochenen Wand.

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Risse in deutsch-russischen Beziehungen - gelingt Versöhnung?

Eingefrorene Kontakte, zerbrochene persönliche Beziehungen: Der russische Angriffskrieg betrifft das Sozialleben vieler Menschen in Deutschland, vor allem Spätaussiedler sind mit den Folgen konfrontiert. Wie kann Versöhnung gelingen?

Über dieses Thema berichtet: Evangelische Perspektiven am .

Es war einmal: Deutsch-russische Städtepartnerschaften stehen vor dem Aus, haben vielfach die Kontakte abgebrochen. Wissenschaftler und Künstler wurden ausgeladen. Viele persönliche Beziehungen sind zerbrochen.

Hier in Deutschland leben mehr als drei Millionen Menschen, die aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind: Aussiedler, Spätaussiedler, sogenannte Russlanddeutsche, Studierende und Arbeitsmigranten. Sie sind mit dem Krieg viel stärker konfrontiert als der Rest der deutschen Bevölkerung - nämlich durch persönliche Beziehungen.

  • Zum Artikel: Showdown auf der Krim: kommt es zum entscheidenden Kampf?

Bis vor einem Jahr war es egal, aus welcher Ex-Sowjetrepublik jemand stammt

Die Aussiedlerseelsorge der Evangelischen Landeskirche kümmert sich um diese Menschen und ihre Probleme und sagt: Sie werden viel zu wenig beachtet. Bis vor einem Jahr war es egal, aus welcher der verschiedenen Ex-Sowjetrepubliken jemand ursprünglich stammt, der zu den Angeboten der Aussiedlerseelsorge der Evangelischen Landeskirche in Nürnberg kommt. Die Nationalität war kein Thema, berichtet Sabine Arnold von der Evangelischen Landeskirche, die jeden Sonntag einen Gottesdienst auf russisch organisiert.

Seit dem 24. Februar 2022 habe sich das Leben aller Menschen, die aus der Ex-Sowjetunion hierhergekommen sind, radikal verändert. Jetzt sei es wichtig, woher genau man stamme – ob aus Russland, aus der Ukraine oder aus Lettland beispielsweise. Für die meisten Familien bedeutet das einen Riss: Mal ist der Schwiegersohn Ukrainer, mal sind die Eltern noch in Russland. Viele sitzen zwischen den Stühlen – zerrissen zwischen den Fronten, im wahrsten Sinne des Wortes, sagt Sabine Arnold. Das führt zu Entfremdung und Sprachlosigkeit.

Menschen werden ausgegrenzt, wenn sie russisch sprechen

Zusätzlich würden die Menschen in Deutschland ausgegrenzt, wenn sie beispielsweise miteinander in der Öffentlichkeit russisch sprechen. Wer russisch spreche, sei für viele gleich "Pro-Putin", berichtet ein Spätaussiedler aus Nürnberg im BR24-Gespräch, der anonym bleiben will. Es gäbe viele Anfeindungen. Das beobachtet er auch in der Schule bei den Kindern und in der Freizeit.

Für ihn selbst sei am 24. Februar 2022 eine Welt zusammengebrochen. Er habe Freunde in Russland genauso wie in der Ukraine und in anderen Ex-Sowjetrepubliken. Mit vielen Freunden habe er den Kontakt abgebrochen, denn er könne nicht gleichzeitig mit Freunden an der Front telefonieren und sich mit anderen über einen Raketenangriff auf die Ukraine freuen. Er sagt: "In unseren Köpfen herrscht Chaos".

Das wird bisher aber wenig in der deutschen Öffentlichkeit thematisiert oder beachtet. Die Historikerin Sabine Arnold sieht auch die Kirchen hierzulande in der Pflicht, gegen Ausgrenzung und Anfeindungen vorzugehen und sich um diese Menschen zu kümmern. Knapp zehn Prozent der Mitglieder evangelischer Gemeinden in Bayern sind laut Sabine Arnold aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert - eine große, heterogene Gruppe.

Aussiedlerseelsorge bei diesem Thema noch "sehr am Anfang"

Bisher fühle sie sich da noch sehr alleine, sagt Sabine Arnold. In der Fläche sei die sogenannte Aussiedlerseelsorge bei dieser Thematik noch sehr am Anfang. "Als Christ darf für mich die Nationalität keine Rolle spielen. Das ist ein wichtiger Punkt, mit dem ich mich als Christ auseinandersetzen muss. Wir brauchen Aufklärung, wir brauchen Gespräche, wir brauchen ganz bestimmt das Gespräch über den Schmerz", fordert Sabine Arnold.

Außerdem solle die Kirche Resonanzräume schaffen, um Gespräche nicht nur über Politik und Geschichte, sondern auch über das Menschsein und den Schmerz führen zu können, über das Vertrauen, das jetzt verloren geht, über das, was den Menschen im tiefsten Inneren berührt. "Wir Menschen sind Menschen, die in Kommunikation miteinander stehen, und wenn das abbricht, wenn da Schweigen ausbricht, dann geht ein Stück von unserem originären Menschsein kaputt".

Auch Aufklärung sei wichtig: und zwar nicht nur der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Auch die Spätaussiedler wüssten wenig über die Geschichte Russlands und der Ukraine, über den Ursprung des Konflikts.

Spätaussiedler ließen zu, dass "russische Propaganda auf sie wirkt"

Dazu kommen unterschiedliche Informationen in den deutschen und russischen Medien, berichtet der Spätaussiedler aus Nürnberg: "In meinem Bekanntenkreis in Deutschland gibt es viele Leute, die jahrzehntelang russisches Fernsehen geschaut und zugelassen haben, dass die Propaganda auf sie wirkt. Ich wünsche mir eine Aufklärungsplattform, wo alle Leute irgendwelche Behauptungen oder Fragen hinschicken können und wo man sich damit dann auseinandersetzen muss."

Auf jeden Fall müssten die Menschen wieder in Kontakt miteinander kommen. Nur so könne auch verhindert werden, dass sich in Deutschland Blasen bilden und Keile zwischen Menschen geschlagen werden. "Denn sonst legen wir eine Zeitbombe in unsere Gesellschaft, die irgendwann explodieren kann", meint der Mann, der mit 13 Jahren aus Lettland nach Deutschland mit seiner Familie kam.

Drei Millionen Menschen aus ehemaliger Sowjetunion in Deutschland

Mindestens drei Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion leben hier in Deutschland, vele von ihnen schon seit mehr als 30 Jahren. Nach 1993 kamen allein nach Bayern knapp 400.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Die große Mehrheit der Spätaussiedler ist protestantisch. Nur etwa 20 Prozent sind katholisch, andere orthodox. Auch in den jüdischen Gemeinden in Deutschland gibt es einen hohen Anteil an Zuwanderern aus der Ex-Sowjetunion.

  • Zum Artikel: Ukraine-Krieg: Zerreißprobe für die russlanddeutsche Community

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Sie interessieren sich für Themen rund um Religion, Kirche, Spiritualität und ethische Fragestellungen? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter. Jeden Freitag die wichtigsten Meldungen der Woche direkt in Ihr Postfach. Hier geht's zur Anmeldung.