Fehlende Studien: Lücken bei der Zulassung von Pestiziden (Symbolbild)
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Fehlende Studien: Lücken bei der Zulassung von Pestiziden

Mehrere Pestizid-Hersteller haben bei der Zulassung wichtige Studien zurückgehalten. Das zeigt eine Untersuchung der Stockholm University, die dem BR vorab vorlag. In den Studien geht es um potentielle Gesundheitsgefahren für Föten und Kinder.

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Der Ausgang eines Zulassungsverfahrens für Pestizide in der EU hängt stark von den Studien der Chemiekonzerne ab. Die Industrie muss nachweisen, dass das jeweilige Mittel für Mensch, Tier und Umwelt verträglich ist. Doch haben die Chemiekonzerne immer alle relevanten Studien bei der Zulassung von Wirkstoffen eingereicht?

Um das zu untersuchen, hat der schwedische Chemiker Axel Mie mit seiner Kollegin Christina Rudén von der Stockholm University Datenbanken der US-amerikanischen Umweltbehörde durchforstet. Die Forscher erstellten anschließend Listen mit sogenannten DNT-Studien zur möglichen Schädigung der Gehirnentwicklung, die Hersteller im Rahmen des dortigen Zulassungsverfahrens eingereicht hatten. Dann prüften die beiden, ob diese Studien auch den Genehmigungsbehörden in der Europäischen Union vorgelegt wurden. "Insgesamt haben wir 35 solcher Studien in den USA gefunden", sagt Axel Mie, "neun davon, also etwa ein Viertel, fehlten in der EU". Dass die einfach "hinter den Schreibtisch gefallen sind", hält Mie angesichts des hoch formalisierten Zulassungsverfahrens für unwahrscheinlich.

Auswirkungen von Pestiziden auf Entwicklungsstörungen nachgewiesen

Studien zur Entwicklungsneurotoxizität sind ernst zu nehmen, darüber besteht Konsens in der Wissenschaft. Das sich entwickelnde Gehirn reagiere sehr empfindlich auf Pestizide, sagt der französische Neurologie-Professor Yehezkel Ben-Ari. "Wir wissen, dass das Auswirkungen auf das ungeborene Kind hat, wenn die Mutter Wirkstoffen ausgesetzt ist."

Die Entwicklungsstörungen seien nicht nur bei Versuchstieren, sondern auch bei Menschen in zahlreichen Studien nachgewiesen. Autismus könne eine Folge sein.

Agrochemie-Riese Syngenta reichte Studien nicht ein

Syngenta ist eines der Unternehmen, das Studien zurückgehalten hat. Zum Beispiel im Fall des Wirkstoffs Abamectin, der vor allem Schädlinge auf Obst- und Gemüse bekämpft. Der Wirkstoff wurde 2009 europaweit zugelassen. Dafür musste Syngenta den Behörden ein umfassendes Dossier mit Studien vorlegen, um zu belegen, dass der Stoff unbedenklich ist.

Zwei Studien zur Entwicklungsneurotoxizität aus den Jahren 2005 und 2007 hatte Syngenta aber gar nicht erst übermittelt, wie das Unternehmen dem BR gegenüber einräumt. Man habe diese Studien den europäischen Behörden im Rahmen des Zulassungsverfahrens nicht "proaktiv" vorgelegt, heißt es in dem schriftlichen Statement. Sie seien im Rahmen des Zulassungsverfahrens in den USA durchgeführt und im europäischen Verfahren damals nicht angefordert worden. Syngenta habe die Studien so eingestuft, dass sie keine neuen Erkenntnisse bezüglich der Toxizität des Wirkstoffs ergeben hätten.

"Akutes Risiko" für Menschen nicht ausgeschlossen

Als die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA etwa zehn Jahre später von den beiden Studien erfuhr, stufte sie diese anders ein. Die Gesundheitsexperten senkten die Referenzwerte aufgrund der Erkenntnisse zur neurotoxischen Wirkung von Abamectin deutlich ab – zum Beispiel wurden die zugelassenen Rückstandswerte des Stoffs auf Gurken, Tomaten oder Zucchini heruntergesetzt.

Bei zwölf Obst- und Gemüsesorten, die mit Abamectin behandelt werden durften, könne ein "akutes Risiko" für Menschen nicht ausgeschlossen werden, folgerte die Behörde in ihrem Risikobericht aus 2021. Bei Äpfeln und Birnen solle der Stoff zur Schädlingsbekämpfung nicht mehr eingesetzt werden.

EU-Kommissionsmitarbeiter sieht ein "ernstes Problem"

"Hätte Syngenta diese Studien bereits 2005 und 2007 ordnungsgemäß bei den Behörden eingereicht, wären die Anwendungen in verschiedenen Kulturen wohl schon damals verboten oder eingeschränkt worden", glaubt der schwedische Wissenschaftler Axel Mie. Studien zur Entwicklungsneurotoxizität sind im EU-Zulassungsverfahren nicht grundsätzlich vorgeschrieben. Im Fall des Wirkstoffs Abamectin hat Syngenta die Studien aber durchgeführt. Und nach Ansicht der schwedischen Forscher hätten diese dann auch bei den europäischen Behörden vorgelegt werden müssen, da die Ergebnisse auf mögliche schädliche Wirkungen hindeuteten. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA bestätigt auf Anfrage des BR, dass die Studien nicht vorlagen.

Haben die Konzerne damit gegen EU-Recht verstoßen? Die EU-Kommission äußert sich nicht zum Fall Abamectin, schreibt aber allgemein, dass Hersteller verpflichtet seien "alle Informationen über potenziell schädliche Wirkungen des Wirkstoffs vorzulegen". Aus einer Mail aus Kommissionskreisen geht hervor, dass man im September vergangenen Jahres alarmiert war, als Hinweise über die fehlenden Studien eingingen. Wenn Hersteller Studien mit "ungünstigen Ergebnissen" nicht einreichen würden, stelle das "ein ernstes Problem" dar, heißt es in der Mail eines Kommissionsvertreters für den Bereich der Lebensmittelsicherheit, die die dem BR vorliegt.

Syngenta ist kein Einzelfall

Neben Syngenta hat auch das deutsche Chemieunternehmen Bayer Studien zur Entwicklungsneurotoxizität bei den europäischen Behörden nicht vorgelegt. Bayer schreibt auf BR-Anfrage, man habe die Studien eingereicht, die nach den damaligen Regularien gefordert waren. Die Risikobewertung sei zuverlässig erfolgt. Bei einem Wirkstoff zum Beispiel sei das Einreichen per Gesetz damals nicht gefordert gewesen. Am Ende sei der Stoff "aus anderen Gründen nicht mehr zugelassen worden".

Wie die Zulassungsbehörden im Nachhinein von den Studien erfahren haben, ist von Fall zu Fall unterschiedlich: Teils haben sie diese selbst recherchiert, teils haben die schwedischen Wissenschaftler sie darauf aufmerksam gemacht. In drei von neun untersuchten Fällen haben nicht vorgelegte Studien nachträglich für eine Neubewertung der Stoffe gesorgt, wie die Untersuchung der Stockholm University zeigt. In vier weiteren Fällen prüfen die Behörden noch eine mögliche Neubewertung.

Sicherheitslücke im Zulassungssystem?

"Die Untersuchung der Stockholm University zeigt eine Sicherheitslücke auf", sagt der Innsbrucker Toxikologe Martin Paparella. "Es kann nicht sein, dass die Industrie Studien durchführt, die sie dann nicht einreicht." Dadurch entstehe ein unvollständiges Bild, meint der Wissenschaftler von der Medizinischen Universität Innsbruck. Er selbst war jahrelang in einer österreichischen Behörde für die Zulassungsverfahren von Chemikalien mitzuständig.

Der Ausgang eines Zulassungsverfahrens für Pestizide in der EU hängt stark von den Studien der Agrochemie-Konzerne ab. Die Industrie muss nachweisen, dass das jeweilige Mittel für Mensch, Tier und Umwelt verträglich ist. "Wenn die Industrie diese Beweise zurückhält", sagt die Toxikologie-Professorin Christina Rudén von der Universität Stockholm, "dann bedeutet das für mich, dass sie ihrer Verantwortung nicht gerecht wird." Dann könnten Behörden nicht beurteilen, ob die Produkte sicher seien oder nicht, so Rudén, und Verbraucher könnten gefährdet werden.

IM VIDEO: Zulassungsbehörden fehlten offenbar Studien zu Pestiziden

Gebäude der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit
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Gebäude der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit

#PesticideSecrets ist eine Recherche-Kooperation - daran beteiligt: BR Recherche, DER SPIEGEL, SRF Investigativ, Le Monde und The Guardian.

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