Kommentar von BR-Chefredakteur Christian Nitsche
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Kommentar: Keinen Demokratieschaden riskieren

In der Pandemie haben einzelne Politiker Vertrauen verspielt. Das kann nicht durch Aussitzen zurückgewonnen werden, nur durch besseres Management. Manchmal hilft wohl nur ein Personalwechsel. Ein Kommentar von BR-Chefredakteur Christian Nitsche.

Die Infektionszahlen gehen nach oben. Dies ist keine Überraschung. Wissenschaftler hatten schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass die mittlerweile dominante Corona-Variante B.1.1.7. ansteckender ist. Vorausgesagt wurde auch, dass Lockerungen die Epidemie verstärken werden.

Nun ist es soweit: Die dritte Welle baut sich auf. Die Zahl der Regionen, die ab 7-Tages-Inzidenz 100 eine Notbremse ziehen müssen, wird sich somit immer weiter erhöhen. Und schon kehrt - nach den aktuellen politischen Maßgaben - der Lockdown faktisch zurück.

  • Zum Artikel "Corona-Inzidenz in Bayern: Schleichende Rückkehr zum Lockdown"

Frustration wirkt wie Zunder

Die Frage ist, wie viele Menschen dies akzeptieren werden. Der Verdruss über die lange Dauer der Pandemie ist unübersehbar groß. Deshalb hatten die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung auch das Ventil geöffnet, wissend um die gesundheitlichen Risiken. Wenn der Lockdown zurückkehrt, kann eine kritische Masse an Frustration entstehen, die politisch wie Zunder wirkt.

Es werden dann noch mehr als bisher Schuldige gesucht: Wer hat versäumt, rechtzeitig genug Impfstoffe zu besorgen? Dies ist eine Schlüsselfrage, weil gute Impfstoffe die einzige Perspektive sind, die alten Freiheiten sukzessive zurückzugewinnen. Es wird noch mehr als bisher gefragt werden, wer für welchen Zeitpunkt eine massive Teststrategie angekündigt hat. Wer hat auf Bundes-, Länder- oder Regionalebene falsche Hoffnungen geweckt oder so unentschlossen und unkoordiniert gehandelt, dass es kein Wunder ist, dass die Menschen sich nicht schützen können?

Die Logistikketten sind auch im zweiten Jahr der Pandemie immer noch nicht ausgereift. Und so entstehen absurde Konstellationen: Die Schulen sollen in den Präsenzunterricht zurückkehren, während Corona wieder Fahrt aufnimmt. Dass die Menschen hierüber den Kopf schütteln und sauer werden, ist verständlich.

Gefährlicher Vertrauensverlust

Auf welche Aussage ist Verlass? Diese Frage steht längst im Raum. Sie berührt das Vertrauen in Politik. Und hieraus wird schnell: "Die können es nicht!" Das ist das Gefährliche. Es ist möglich, dass sich immer mehr von "der Politik" insgesamt abwenden. Extreme politische Gruppierungen, die auch demokratische Prozesse in Frage stellen, wissen solche Stimmungen für sich zu nutzen.

Es geht also um mehr als die etwas abgenutzte Vokabel der Politikverdrossenheit. Ein erschüttertes Vertrauen in politische Entscheidungsträger und Prozesse ist auch ein Schaden für die Demokratie. Es besteht das Risiko, dass die politische Architektur mehr ins Schwanken gerät als dies im Moment in Umfragen und an Wahlergebnissen ablesbar ist.

Was also tun? Lockern trotz steigender Zahlen? Das Ventil noch weiter öffnen, damit der Druck entweicht? Dies würde unweigerlich die Zahlen der Infektionen extrem steigen lassen und wohl auch die Zahlen der Toten. Das ließe das Vertrauen gleichsam schwinden. Gerade der Impfstopp für Astrazeneca bedeutet, dass sich das Tempo, Risikogruppen zu schützen, verlangsamt. Die politisch Verantwortlichen stehen vor der schwierigsten Entscheidungssituation der bisherigen Pandemie. Wie kann eine Pandemie ausbalanciert werden?

  • Zum FAQ "Astrazeneca-Impfungen ausgesetzt: Das sollten Sie wissen"

Wahlkampfgetöse fehl am Platz

Das Wahljahr erschwert die politische Abwägung. Die Mechanismen des Wahlkampfes können den politischen Verdruss der Menschen weiter erhöhen. Wenn Parteien sich gegenseitig in Gänze in Haftung nehmen, dann verstärkt sich der Eindruck des pauschalen Politikversagens. Wahlkampf während Corona bedeutet also auch Disziplin in Analyse und Wortwahl. Sonst beschädigen sich die Parteien selbst.

Auch die Medien sind gefordert, nicht alles über einen Kamm zu scheren. Guter Journalismus bedeutet nicht nur den Finger in die Wunde zu legen, sondern die Ursache der Verletzung genau unter die Lupe zu nehmen. Konkret: Es gilt, genau zu ermitteln, wer an welcher Stelle seinem verliehenen Amt nicht gerecht geworden ist.

Wo Fehlentscheidungen getroffen wurden

Missmanagement hat Namen, die benannt werden müssen. Nicht der Föderalismus, die Länder, der Bund oder "die Politik" sind gescheitert. Es sind identifizierbare Personen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind. Wer jetzt die Verantwortlichkeiten übertüncht und Versäumnisse nicht benennt, schadet der Demokratie.

An verschiedenen Schaltstellen wurden Fehlentscheidungen getroffen oder unverantwortliche Prognosen gemacht. Ein mehr als unglückliches Bild gab zum Beispiel Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ab, aber auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz verstieg sich in kaum haltbare Versprechen, was die baldige Verfügbarkeit von Impfstoffen betrifft. Bayerns Kultusminister Michael Piazolo hat versäumt, die Schulen auf die zweite und dritte Welle gut vorzubereiten. Bis hinein in die Kommunen wurde die Brisanz von Corona unterschätzt, obwohl Virologen vor weiteren Corona-Wellen schon im Sommer gewarnt hatten. Es wurden auch auf lokaler Ebene Kosten gescheut, Haushalte nicht neu priorisiert. Es wurde auf unterschiedliche Zuständigkeiten verwiesen und Zeit verspielt. Dieses Nichthandeln hat Leben oder Arbeitsplätze gekostet. Und in der Maskenaffäre von CDU und CSU trat zu Tage, dass Abgeordnete Profit über Anstand stellen. Welch fatales Signal. So kann es nicht weitergehen.

Personalwechsel besser als Vertrauensverlust

Impfdebakel, Testversäumnis, Wirtschaftshilfen-Desaster und Schulversagen dürfen sich nicht fortschreiben. Wird das Management nicht deutlich verbessert, werden die politisch Verantwortlichen abgestraft. In langen Krisen lassen sich Fehlbesetzungen nicht verbergen. Die jetzige Lage ist auch eine Chance, Vertrauen zurückzugewinnen. Das bedeutet, auch Personal auszuwechseln. Das ist die bessere Variante, als einen Vertrauensverlust in demokratische Prozesse zu riskieren.

  • Zum Artikel "Söder sieht Corona-Krisenmanagement als Grund für Wahlpleiten"

Wer die Dynamik der kommenden Wochen unterschätzt, was die Infektionszahlen und Stimmungslage in der Bevölkerung betrifft, wer wegguckt, den Schutz in Bürokratie sucht, erhält sicher eine Quittung. Nicht nur bei der nächsten Wahl. Diese Pandemie prägt das Bewusstsein einer ganzen Generation, die nicht schnell vergessen wird.

Ein Kommentar von Christian Nitsche, Chefredakteur Bayerischer Rundfunk