Thomas von Fritsch, Bernd Herzog, Thomas Röthig 1974
Bildrechte: Rüdiger von Fritsch; Montage: BR

Kontrovers

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Fußball, Stasi, Klassenkampf: Fluchtversuch während der WM 1974

Als die BRD 1974 ins WM-Finale einzieht, wollen drei DDR-Männer mit falschen Pässen über Bulgarien fliehen. Sie hoffen, dass Grenzbeamte während des Spiels abgelenkt sind. Kurz vor der Grenze werden ihre Pläne durchkreuzt. Schaffen sie es trotzdem?

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Erstmals ging mit der Fußball-Weltmeisterschaft von 1974 in der Bundesrepublik Deutschland ein Großteil der Spiele live im Fernsehen um die ganze Welt. Millionen Menschen beobachteten, wie die "deutsche" Mannschaft sich von Spiel zu Spiel steigerte und am Ende sogar Weltmeister wurde. Bis heute eine Heldengeschichte - und das vor dem Hintergrund, dass die Weltmeisterschaft 1974 in einem geteilten Deutschland stattfand.

Die beiden Staaten BRD und DDR schienen sich 1974 durch die Ostpolitik Willy Brandts anzunähern: "Anerkennung statt Konfrontation" hieß die neue Formel. Das geteilte Deutschland - 1974 noch brutale Realität: Nicht nur politische Systeme, sondern auch eine Mauer und ein Todesstreifen trennen DDR und BRD. Wer versuchte, von Ost nach West zu fliehen, begab sich in Lebensgefahr. Wer geschnappt wurde, kam für mehrere Jahre ins Gefängnis.

Geteiltes Deutschland, symbolische WM 1974

Die Gruppenauslosung der WM 1974 ergibt: DDR und BRD kommen in eine Gruppe, werden gegeneinander spielen. Der Kalte Krieg kommt auf den Rasen. Während in der BRD die Vorbereitungen für die WM laufen, planen drei Abiturienten aus der DDR ihre Flucht: Mit gefälschten Pässen wollen sie die Grenze passieren und hoffen, dass die Grenzschützer durch das WM-Finalspiel abgelenkt sind. Doch ihr Plan geht zunächst schief. Für die zweiteilige Dokumentation von Kontrovers - Die Story besuchen sie 50 Jahre später noch einmal die Stationen ihrer Flucht.

Im Video: Fußball-WM 1974: Kalter Krieg und riskante Flucht aus der DDR (1/2)

"Lüge war Alltag in der DDR"

Bernd Herzog aus Stendal in Sachsen-Anhalt ist damals 19 Jahre alt. Er will zu dieser Zeit vor allem eins: raus aus der DDR. 50 Jahre danach spricht er mit "Kontrovers - Die Story" erstmals in einem Fernsehinterview über die Hintergründe seiner Flucht: "Ich wollte nicht mehr mit der Lüge leben. Und die Lüge war der Alltag in der DDR", sagt Herzog. Auch seine beiden Freunde wollen fliehen: der 20-jährige Thomas Röthig aus Leipzig und der 19-jährige Thomas von Fritsch aus Bad Blankenburg.

Sie kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit am Internat in Neuoberhaus in Sachsen. Die drei Freunde waren gemustert - nach dem Abitur stand ihnen der Wehrdienst bevor. Deswegen wollen sie gleich nach dem Abitur raus aus der DDR. Dafür bitten sie Thomas' Cousin Rüdiger von Fritsch im Westen um Hilfe.

Immer im Hintergrund: die Staatssicherheit

Im Jahr der Weltmeisterschaft feiert die DDR gerade ihr 25-jähriges Bestehen. Hinter den Kulissen steht dabei die Staatssicherheit, der Geheimdienst der DDR. Sie soll bei der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft sämtliche Fluchtversuche vereiteln und "Grenzverletzer vernichten".

Dafür sollten laut Befehl von Stasi-Chef Erich Mielke alle Fußball-Fans, die zu Spielen nach Westdeutschland fahren durften, lückenlos überwacht werden. Es ist eine der größten Stasi-Maßnahmen in der Geschichte: die Aktion "Leder".

Tausende DDR-Bürger werden überwacht: Fluchtversuche während der WM sollten um jeden Preis verhindert werden. Die Historikerin und Leiterin der Forschung beim Stasi-Unterlagen-Archiv, Daniela Münkel, weiß: "Das war eine riesige logistische Aktion."

Aktion "Leder": eine der größten Überwachungsaktionen der Stasi

Die Stasi überwacht nicht nur Fans, sondern auch die eigene Mannschaft und deren Betreuer. "Von diesen 48 Personen waren zwölf inoffizielle Mitarbeiter und einer ein Offizier im besonderen Einsatz", erklärt Münkel das Ausmaß. Telefongespräche werden abgehört, Briefe gelesen: Die Staatssicherheit scheint auf die Fußball-WM beim Klassenfeind vorbereitet zu sein.

Doch dann wird ihr Top-Agent in der BRD enttarnt: Günter Guillaume, DDR-Spion im Bundeskanzleramt und persönlicher Referent von Bundeskanzler Willy Brandt. Die Festnahme Guillaumes belastet das Verhältnis zur DDR schwer und stürzt die Bundesregierung kurz vor Beginn der Fußball-WM 1974 in eine Krise. Willy Brandt tritt zurück, neuer Kanzler wird Helmut Schmidt.

Fluchtroute gegen die Intuition

Inzwischen hat Rüdiger von Fritsch einen Plan: In Bulgarien will er die drei Freunde aus der DDR "mit drei gefälschten westdeutschen Reisepässen versorgen, sodass aus diesen jungen DDR-Bürgern vermeintlich junge Westdeutsche wurden, die als Hippies per Autostopp unterwegs waren, in Richtung Türkei", erinnert sich von Fritsch.

Eine Flucht mit gefälschten Pässen, gegen jegliche Intuition: Statt direkt von Ost nach West soll die Flucht für die Abiturienten zunächst nach Süd-Osten gehen, immer weiter, bis in die Türkei. Auf dieser Route waren in den 1970er Jahren viele Hippies auf dem Weg nach Indien unterwegs.

Die Pässe dafür will Rüdiger von Fritsch selbst fälschen und tastet sich in den kommenden Wochen mühsam heran, versucht mit Radiergummis und einem Federmesser die Stempel nachzubauen - und gleichzeitig alles andere zu organisieren. Die Zeit drängt, denn die Flucht soll stattfinden während des WM-Endspiels - wenn alle Grenzbeamten Fußball schauen und abgelenkt sind, so seine Hoffnung.

WM 1974: die Welt zu Gast in der BRD

Während die Freunde ihre Flucht vorbereiten, beginnt in der BRD die Fußball-Weltmeisterschaft. Am 22. Juni 1974 ist der Tag des deutsch-deutschen Duells. In Sonderzügen kommen die DDR-Fans in die Bundesrepublik: fast ausschließlich Männer, mindestens 25 Jahre alt, linientreu - alle von der Stasi ausgewählt und überwacht.

Die Staatssicherheit der DDR: auch im Ausland aktiv

Die drei Freunde bekommen davon kaum etwas mit, sind mit Gedanken an ihre Flucht abgelenkt und feiern ihr Abitur in Johanngeorgenstadt. Noch 15 Tage, bis sie von Bulgarien aus "rübermachen" wollen. Davon erzählen können sie aber niemandem und verabschieden sich lediglich im Stillen von ihren Freunden. Zu groß ist das Risiko, dass ihre Pläne sonst auffliegen.

Was sie nicht wissen: Bulgarien und die DDR arbeiten bei der "Fluchtbekämpfung" eng zusammen.

"Die meisten Fluchten von DDR-Bürgern werden durch die bulgarische Staatssicherheit oder die bulgarischen Grenztruppen verhindert. Das ist einmal durch Festnahmen, aber auch durch Erschießen. Und das Perfide in der ganzen Geschichte ist, dass es ein Kopfgeld gab für jeden DDR-Bürger, dessen Flucht verhindert wurde, und zwar egal, wie." Prof. Daniela Münkel, Historikerin

Falsche Pässe: "Die Schweine haben die Farbe geändert"

Während die DDR inzwischen ausgeschieden ist, steht die BRD im Finale. Vier Tage vor dem Endspiel erreichen die drei Freunde Bulgarien. Sie haben Geld für ein paar Tage, ein Visum für eine Woche - und Sorgen, erzählt Thomas Röthig: "Ich habe auch sehr viele Ängste gehabt. Und da haben wir uns nie irgendwo untereinander ausgetauscht, weil wir das bewusst auch nicht hochschaukeln wollten."

Auch Cousin Rüdiger von Fritsch und sein Bruder erreichen Bulgarien. Doch als sie kurz hinter der Grenze in ihre Pässe schauen, müssen sie feststellen, dass ihr Plan zu scheitern droht.

"Es war eine Katastrophe, und die ganze Anspannung der Monate hat sich in einem Schrei entladen. Die Schweine haben die Farbe geändert, und wir wussten, es war alles umsonst. Alles vergeblich." Rüdiger von Fritsch

Die bulgarischen Einreisestempel haben sich verändert. Damit sind die von Rüdiger von Fritsch mühsam gefälschten Pässe wertlos.

Ist die Flucht gescheitert?

Sollen die drei Freunde wieder in die DDR zurück? Oder es auf eigene Faust über die bulgarische Grenze versuchen und das Risiko eingehen, erschossen zu werden, wie so viele vor ihnen?

Rüdiger von Fritsch verspricht, in zwei Wochen wiederzukommen: Er will den Plan noch nicht aufgeben, erinnert er sich in der Doku von "Kontrovers - Die Story", denn gescheitert sei er "lediglich dadurch, dass die kurzfristig die Farben der Stempel geändert hatten." Mit neuen Pässen und Stempeln in der richtigen Farbe rechnen sie sich gute Karten aus.

Neuer Treffpunkt: Sofia, 14 Tage später. So lange müssen die drei Freunde in Bulgarien untertauchen, sich nach Sofia durchschlagen.

Mit Textmarker zur Flucht?

Zu Hause versucht Rüdiger von Fritsch, neue Pässe für die drei Freunde zu bekommen und weiht seinen Vater ein. Der wiederum zieht einen Bekannten ins Vertrauen, einen Mann vom Bundesnachrichtendienst.

"Der wusste zwar nichts Konkretes, aber gab einen Hinweis, der entscheidend war. Er sagte: 'Haltet die Stempel mal unter eine ultraviolette Lampe, auch in den sozialistischen Ländern fluoreszieren die heute!' Davon hatten wir noch nie gehört, dass die fluoreszierten, also unter einer UV-Lampe leuchteten." Rüdiger von Fritsch

Plötzlich wird Rüdiger von Fritsch klar, wie viel Glück sie hatten, dass ihr Fluchtversuch beim ersten Mal gescheitert war. Damit beim zweiten Fluchtversuch nun aber die Farben in den gefälschten Pässen fluoreszieren, behilft sich Rüdiger von Fritsch mit Textmarkern und hofft, dass die Stempelfarbe nun richtig ist.

Ein neuer Versuch

Mit den neuen Pässen im Handschuhfach geht es nach Bulgarien. Rüdiger von Fritsch und sein Bruder haben unter anderem T-Shirts mitgebracht, um die drei Freunde als westdeutsche Hippies auf dem Weg nach Indien zu verkleiden. Am folgenden Tag fahren sie zur bulgarisch-türkischen Grenze.

Thomas von Fritsch soll die Grenze als erster passieren: "Ich habe versucht, so wenig wie möglich zu zittern, zu schwitzen oder um mein Angstgefühl (…) Ich habe manchmal das Gefühl, wenn das so laut pocht, dann hören die das", erinnert er sich. Eine halbe Stunde später ist Thomas Röthig an der Reihe und schließlich Bernd Herzog. Der muss ohne seine Brille über die Grenze, weil darauf erkennbar ist, dass sie in der DDR hergestellt worden ist.

"Ich habe erst gar nicht gespürt, dass ich drüben war. Ich habe gedacht, jetzt kommt vielleicht noch ein Grenzer und noch eine Kontrolle. Und dann standen die anderen schon zehn Meter von mir entfernt und haben mich umarmt. Innerhalb von wenigen Sekunden ist alles dann an mir abgefallen, und ich war dann im siebten Himmel." Bernd Herzog

Sie haben es geschafft. Die deutsch-deutsche Grenze existiert nach der Fußball-Weltmeisterschaft noch für 15 weitere Jahre. Mehr als 100.000 DDR-Bürger versuchten, über diese Grenze zu fliehen. Etwa 600 von ihnen starben bei ihren Fluchtversuchen. Die drei Freunde und ihre beiden Fluchthelfer treffen sich seitdem in jedem Jahr.

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