Wie viel Einfluss nimmt der einzelne mit seiner Stimme bei der Europawahl?
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Wie viel Einfluss nimmt der einzelne mit seiner Stimme bei der Europawahl?

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Europawahl: Wie viel Einfluss üben die Wähler aus?

Hinterzimmer-Beschlüsse und Bürger-Ferne: Die EU sei nicht demokratisch genug, zu machtlos das Europaparlament, heißt es oft. Stimmt das? Experten sagen dem #faktenfuchs: Die Union ist demokratischer als früher. Aber gut genug sei sie noch nicht.

Undurchsichtige Entscheidungen bestimmen die EU-Politik - und die Wähler bleiben machtlos: Auch in den Kommentarspalten von BR24 gibt es diese Behauptung - verbunden mit Fragen an die Redaktion.

Wie viel Einfluss hat der Bürger nun mit seiner Stimme in der Wahl des Europaparlaments? Könne sich die Abgeordneten behaupten gegenüber der Kommission und dem Rat der Europäischen Union? Tatsächlich sind die Strukturen der Europäischen Union, ihre Institutionen, kompliziert und für den Bürger nicht leicht zu verstehen.

Darin allein sehen Politikwissenschaftler ein Demokratie-Defizit. Auch wenn, das sagen sie auch, nicht alles an der EU so undemokratisch ist, wie es auf den ersten Blick wirken mag.

  • Dieser Artikel stammt aus dem Jahr 2019. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier

Keine Macht dem Europaparlament?

Kritiker sehen im Europaparlament einen bloßen Erfüllungsgehilfen für den Rat der Europäischen Union und die EU-Kommission. Sie behaupten, das Parlament könne nicht mehr als nur abnicken, was es vorgelegt bekommt. Diese Sicht ist aber veraltet.

Im Vergleich zu den 1970ern hat das Europäische Parlament heute sehr viel mehr Befugnisse. "Das Europaparlament wird direkt gewählt, es hat sich mehr Rechte erkämpft", sagt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Professorin und Leiterin des Department für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Das Parlament wählt auch die Europäische Bürgerbeauftragte, die Beschwerden von Bürgern, Unternehmen und Organisationen über Missstände in der Verwaltung nachgeht. "Es ist immer besser geworden", sagt Guérot. "Aber es ist noch lange nicht gut."

Dennoch, ein zentrales demokratisches Machtinstrument hat das Europäische Parlament: Es muss dem Kommissionspräsidenten zustimmen und kann die gesamte Kommission auch per Misstrauensvotum stürzen. Das ist bei schwerwiegenden Gründen möglich, zum Beispiel beim Verdacht auf Misswirtschaft. Für einen Misstrauensantrag braucht es ein Zehntel der Mitglieder des Parlaments, um ihn anzunehmen die Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen und dabei eine Mehrheit der Mitglieder des Parlaments.

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Was darf das Europaparlament?

Ohne EU-Parlament kein Gesetz

Zudem kann das Europaparlament heute einerseits mehr Einfluss geltend machen als früher, als es nur Empfehlungen oder Resolutionen abgeben durfte. Heute ist es - zumindest im sogenannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahren - gleichberechtigt mit dem Rat der Europäischen Union. "Diese Rolle nimmt es auch ernst", sagt Klaus Goetz, Politikwissenschaftler und Experte für Europäische Integration an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Kein Gesetz kommt zustande, ohne dass es zustimmt." Das heißt, das Parlament kann neue Gesetze auch verhindern. Im ordentlichen Verfahren kann es immer Änderungsvorschläge machen. "Und es macht auch häufig welche", sagt Goetz.

"Ordentliche" oder "besondere" Verfahren

Im "ordentlichen Verfahren" regeln Kommission, Rat der Europäischen Union und Parlament die meisten Politikbereiche. Aber nicht in allen. Es gibt nämlich auch die besonderen Gesetzgebungsverfahren. "Im Rahmen der besonderen Gesetzgebungsverfahren ist der Rat in der Praxis alleiniger Gesetzgeber", heißt es auf der Rechts-Informationsseite der EU.

Die Aufgabe des Parlaments beschränkt sich dann auf Konsultation, etwa bei grenzüberschreitenden Polizeieinsätze oder der sozialen Sicherheit, oder Zustimmung - zum Beispiel was die Europäische Staatsanwaltschaft betrifft. Beispielsweise kann das Parlament bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nur Empfehlungen aussprechen und wird vom Rat angehört. Im Konsultationsverfahren ist der Rat nicht an die Entscheidung des Parlaments gebunden.

Nun sagen die einen Experten: Das Parlament ist folglich immer beteiligt, es geht nichts an den Abgeordneten vorbei. Andere bewerten es hingegen so: Das Parlament ist nicht der eigentliche Souverän, in wichtigen Bereichen hat es zu wenig Einfluss.

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Das Machtdreieck der EU

Geld und Grenzen - was hat das Parlament zu sagen?

Ulrike Guérot spitzt deshalb zu: "Die großen Dinge - Geld und Grenzen - werden nicht vom Parlament entschieden, sondern im Rat und damit unter den jeweiligen Ministern der Länder ausgehandelt." Ganz so eindeutig ist es aber nicht.

Geld umfasst viele Bereiche. Geht es um die Harmonisierung des Steuerrechts, entscheidet der Rat tatsächlich einstimmig und das Europäische Parlament wird nur angehört. So kann das Parlament etwa am mehrjährigen Finanzrahmen, angelegt auf sieben Jahre, nichts ändern, es muss aber zustimmen und wird vorher informell eingebunden, um das sicherzustellen. Es kann den Haushalt also auch ablehnen.

Auch wenn es um Grenzen geht, liegen die Dinge nicht so einfach. Die Vorschriften über Grenzkontrollen und Visapolitik unterliegen dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, in dem Rat und Parlament ja gleichberechtigte Mitgesetzgeber sind. So auch in Sachen "Schengen-Abkommen" und Entscheidung über die vorübergehenden Kontrollen an den Binnengrenzen.

Wenn sich finanzieller Aufwand mit der Grenzpolitik verbindet, ist das Parlament auch immer mit gefragt. Betrifft eine Frage der Grenzen das Völkerrecht, entscheide tatsächlich primär der Rat, sagt Andreas Kalina, Experte für Europäische Integration an der Akademie für Politische Bildung Tutzing.

EU-Parlament ohne formales Initiativrecht für Gesetze

Dass das Parlament nicht ausreichend Macht hat, machen einige Experten auch an einem weiteren Punkt fest: Formal kann allein die Kommission ein Gesetz einbringen - sie hat ein Monopol darauf. Dieses sogenannte Initiativrecht des Parlaments vermissen einige Kritiker.

Zwar gibt es Mittel und Wege für das Parlament, ein Gesetz anzustoßen. Es kann die Kommission um ein Gesetz bitten. "Wenn das EP ein Gesetz in die Wege leiten will, spielt sie das über Bande", sagt Kalina. Fraktionen oder Berichterstatter aus dem Parlament geben dann in der Regel einen bereits ausgearbeiteten Entwurf an die Kommission weiter.

Dennoch, die Kommission kann ablehnen, eines zu liefern. Nun sagen die einen Experten, das macht das Parlament praktisch machtlos. Die anderen sagen: Immerhin muss die Kommission ihre Entscheidung begründen, muss sich also im Wortsinne dafür verantworten.

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Bürgerbeteiligung in der EU

Parlament contra Mitgliedstaaten

Dass nicht das Parlament alleiniger Gesetzgeber ist, sondern der Rat gleichberechtigt ist, heißt aber auch, dass das Parlament seine eigene Agenda nie gegen die Interessen der Mitgliedsstaaten durchsetzen kann.

Dabei bestehen die Mitgliedsstaaten auf erheblichen Einfluss. Das führt laut dem Europarechtler Walther Michl von der LMU München noch zu einem weiteren Demokratie-Defizit: Die Wähler können auf EU-Ebene nicht für Parteiprogramme stimmen. Die Mitgliedsstaaten sind dominant bei der Wahl der Kommission. Wäre sie allerdings ausschließlich vom Parlament bestimmt, hätten die Vertreter der Unionsbürger einen direkteren Einfluss auf die Gesetzgebung.

Da das aber nicht so ist, bilden die Kommissare - und damit auch ihre Gesetzesentwürfe - nicht die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ab. Und deshalb können die Bürger in der Europawahl auch keine Parteiprogramme wählen - denn die Abgeordneten sind ja nicht die, von denen dann die Gesetze ausgehen.

Gelotstes Wählen?

Außerdem geht die Kommission nicht aus dem Parlament hervor - anders als etwa die Bundesregierung aus dem Bundestag. Die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten schlagen vielmehr dem Parlament die Kommissare vor - und die Abgeordneten müssen zustimmen. Selbst können sie keine Kandidaten vorschlagen. Wird das Parlament da also zu einer dem Rat genehmen Zusammensetzung gelotst?

Nein, sagt Goetz. Das Parlament kann die Kandidaten in Anhörungen befragen - beim sogenannten Grillen der Kandidaten. Haben die Abgeordneten Vorbehalte gegen einen oder mehrere Kandidaten, können sie die Zustimmung verweigern. "Das hat schon mehrmals dazu geführt, dass das jeweils vorschlagende Land, vertreten im Europäischen Rat, den Kandidaten zurückzieht, um die Bestätigung insgesamt nicht zu gefährden", sagt der Politikwissenschaftler. Das sei eine erhebliche Wahlfunktion.

Michl sieht die Macht des Parlaments aber dennoch begrenzt: "Denn die Vorschläge für die Kommissare aus den Ländern entsprechen natürlich den jeweiligen nationalen Mehrheitsverhältnissen, nicht aber der Sitzverteilung im EU-Parlament." Und auch die Ersatzkandidaten seien dann eben etwas gemäßigtere - aber immer noch repräsentativ für die Länderparlamente.

Ein Kritikpunkt am EU-System sind auch die sogenannten Triloge, die oft einer Entscheidung über ein Gesetz vorhergehen. In ihnen sitzen ausgewählte Vertreter der Kommission, des Rats und des Parlaments, um Gesetzesentwürfe zu besprechen und sich in internen Verhandlungen zu einigen. Daran gibt es massive Kritik - auch wenn das Ziel zunächst nur ist, die Gesetzgebungsverfahren zu verkürzen.

"Die Triloge sind funktional erklärbar, aber sie schränken die Transparenz ein", kritisiert auch Goetz. "Es gibt eine gewisse Machtkonzentration auf Seiten derer, die ausgewählt werden, daran teilzunehmen." Kritiker verlangen, dass Protokolle aus den Treffen veröffentlicht werden.

Nun ist durchaus nicht das Europaparlament allein dafür zuständig, die Interessen der Bürger in die EU-Politik einzubringen.

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So kommt ein europäisches Gesetz zustande

Die Rolle der nationalen Parlamente

Schließlich sind auch die Vertreter im Europäischen Rat - die Regierungschefs - und jene im Rat der Europäischen Union - die Länderminister - Vertreter der Bürger, die sie über die nationalen Wahlen ins Amt brachten. Allerdings ist der Weg lang von zum Beispiel der Bundestagswahl zum Rat der Europäischen Union: über den Bundestag, die Wahl der Kanzlerin, der Ernennung des Kabinetts.

Aber die Entscheidungen im sogenannten Ministerrat sind rückgekoppelt an den Bundestag. Bevor ein deutscher Minister im Rat der EU abstimmt, hat der Bundestag das Recht, sich mit den Gesetzesvorschlägen der EU-Kommission zu befassen, er kann sich positionieren, wie die Regierung sich in der EU verhalten soll. Die nationalen Parlamente sind also eingebunden.

Einige Kritiker der EU wünschen sich zugleich mehr direkten Einfluss der Bürger, aber auch mehr nationalen Einfluss auf die EU. Das nennt Michl bigott: "Wenn Sie viel nationalen Einfluss auf die EU-Entscheidungen haben, dann müssen die vielen Staaten eine Linie verhandeln und es kommt zu Kompromissen, die einzeln keiner gewollt hätte. Das wird dann aber als 'Hinterzimmer' verschrien."

Fazit

Über die Europawahl wählen die EU-Bürger direkt die Abgeordneten des Europaparlaments. Diese wirken an den meisten Gesetzen mit, schlagen den Kommissionspräsidenten vor und können nach Anhörungen die Zusammensetzung der Kommission beeinflussen. Dennoch sehen Politikwissenschaftler in der EU Demokratiedefizite: Der Einfluss der Abgeordneten auf die Kommission ist begrenzt, das Parlament kann seine Pläne nie gegen die Interessen der Mitgliedsstaaten durchsetzen. Das System ist aus Sicht der Experten auch zu unklar strukturiert, um den Bürgern das Gefühl zu geben, gehört zu werden und die EU verstehen zu können.