Ein Justizbeamter schließt in einer Justizvollzugsanstalt die Tür zu einem Haftraum ab.
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13 Jahre ungerechtfertigt in Haft - wie bewältigt man so etwas?

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Freiheit nach langer Haft: Wie gelingt die Rückkehr ins Leben?

Manfred Genditzki saß mehr als 13 Jahre lang zu Unrecht in Haft. Welche Spuren hinterlässt das? Wie geht man damit um, gerade wenn die Haft ungerechtfertigt war? Eine Sozialpädagogin und ein Seelsorger berichten.

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Es ist einer der seltenen Fälle von Justizirrtum - mit schwerwiegenden Folgen: Im Jahr 2008 wurde Manfred Genditzki vorgeworfen, eine Rentnerin aus Rottach-Egern in ihrer Badewanne ertränkt zu haben. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, obgleich Genditzki auf seiner Unschuld bestand. Erst 2022 kamen am Landgericht München erhebliche Zweifel an seiner Schuld auf. Das Verfahren wurde neu aufgerollt. Jetzt haben ihn die Richter auf der Grundlage neuer Gutachten freigesprochen. Doch bis dahin hat er bereits 13 Jahre und sechs Monate in Haft verbracht und vieles verpasst: Zeit mit Kindern und Familie, die Geburt eines Enkelkindes.

Sozialpädagogin: "Vertrauensbruch in die Gesellschaft"

Iris Grönecke-Kümmerer, Sozialpädagogin beim Sozialdienst Katholischer Frauen in München, unterstützt in der Straffälligenhilfe Frauen dabei, nach der Haft wieder Fuß zu fassen. Ihrer Erfahrung nach fühlen sich auch zu Recht Inhaftierte überfordert, wenn sie das Gefängnis verlassen.

Doch wenn jemand wie Manfred Genditzki zu Unrecht hinter Gittern saß, sei das Gefühl von Ohnmacht gleichwohl größer. "Das ist natürlich ein großer Vertrauensbruch in die Gesellschaft", betont sie. "Wenn man das erlebt hat, löst das viele Ängste aus, ganz große Gefühle der Unsicherheit." Grönecke-Kümmerer erklärt, sie könne sich vorstellen, dass es ganz viele Zweifel gebe: "die Angst vor dem System und auch, dass man nicht beschützt worden ist".

Gefängnisseelsorger: Haftzeit "wie eine Wüste"

Auch Wolfgang Gronauer, Vorsitzender der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge, kennt die Gefühle der Gefangenen. Er ist Pfarrer und Gefängnisseelsorger in den JVAs Neuburg-Herrenwörth und Niederschönenfeld. Dort begleitet er Inhaftierte, die sich in der neuen, stark regulierten Welt des Gefängnisses zurechtfinden müssen.

Zum Fall selbst darf er sich nicht äußern, allgemein weiß er aber: "Das ist eine große Herausforderung für Gefangene, ihre Situation, in der sie vieles nicht mehr selbst in der Hand haben, aushalten zu müssen." Zudem gebe es viel Zeit mit sich und den Gedanken alleine. Gronauer vergleicht die Haftzeit mit einer "Wüstensituation": "Ich bin jetzt an einem Ort, wo ich wenig Gestaltungsmöglichkeiten habe." Der Umgang der inhaftierten Frauen und Männer damit sei unterschiedlich: "Die eine Person macht es stärker und klarer, und die andere Person kämpft damit."

Das soziale Umfeld: Von Unterstützung bis Kontaktabbruch

Eine andere große Frage der Inhaftierten ist die nach Partner oder Partnerin, Kindern und dem Freundeskreis: Wer steht nun noch zu mir? Gronauer kennt verschiedene Fälle, von enger Unterstützung bis hin zu Kontaktabbruch: "Wenn Gefangene die Erfahrung machen in der Haft, dass die Kontakte abbrechen, dann kann es danach auch schwierig werden, weil sie oft nicht so recht wissen, wie es weitergeht." Manfred Genditzkis Familie hat zu ihm gehalten und ihn unterstützt.

Die große Herausforderung: Rückkehr in die Normalität

Nicht nur die Zeit im Gefängnis ist eine Herausforderung, sondern auch die Zeit danach. Eine Klientin von Iris Grönecke-Kümmerer habe einmal gesagt: "Das Reinkommen war schlimm, aber das Rauskommen war noch viel, viel schlimmer." Nach einer Zeit, in der jegliche Selbstbestimmung abgegeben werden musste, gelten wieder normale Anforderungen: Man muss selbst aktiv werden und Entscheidungen treffen. Grönecke-Kümmerer nennt ein Beispiel: "Wenn Menschen sehr lange in Haft waren, dann gibt es Dinge, die es so vor der Haft noch gar nicht gegeben hat, wie die Digitalisierung." Auch die hat Manfred Genditzki verpasst.

Wie geht man mit dem Unrecht um?

Wie bewältigt man so etwas? Hans Lyer, Priester und ehemaliger Jugendgefängnisseelsorger, sagt: "Für die Seelsorge heißt das in erster Linie, einem solchen Menschen beizustehen und die Situation mit ihm auszuhalten, zu bearbeiten, zu besprechen, sodass dieser Mensch lebensfähig bleibt." Es sei schließlich ein Teil der Lebensgeschichte. Auch im Fall von Manfred Genditzki: "Einem solchen Menschen gilt es, Raum zu geben. Ihm muss zugehört werden, er muss eine Sprache finden für das, was ihm widerfahren ist."

  • Zum Artikel: Seelsorge im Vorübergehen - 50 Jahre Münchner Insel

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