Frauen reißen sich im Iran ihre Kopftücher herunter, um für ihre Rechte zu demonstrieren.
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Frauen reißen sich im Iran ihre Kopftücher herunter, um für ihre Rechte zu demonstrieren.

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Der Alptraum der Islamischen Republik: Brennende Kopftücher

Seit dem Tod von Mahsa Amini vor fast zehn Tagen ändert sich die Stimmung im Iran zunehmend. Tausende gehen auf die Straße, demonstrieren gegen das Regime - mit dem Risiko, dabei verhaftet und gefoltert zu werden. Ein Tagebuch von Natalie Amiri.

14. September 2022

Mahsa Amini war mit ihrem Bruder, ihrer Familie, aus der kurdischen Stadt Saqqez zu Besuch nach Teheran gekommen. Als sie aus der U-Bahn stiegen, liefen sie ein paar Schritte. Mahsas Kopftuch saß wohl nicht richtig, so dass sie von der Sittenpolizei angehalten wurde. Die Sittenpolizei gibt es seit Gründung der Islamischen Republik. "Gashte Ershad" - der Name lässt alle erzittern, die es mit dieser Religionspolizei zu tun hatten. Und das sind viele.

Sie achtet darauf, dass Frauen im Iran islamisch genug gekleidet sind, das bedeutet, dass Arme, Beine und der Kopf genügend bedeckt sind. Wenn dies nicht der Fall ist, wird man angeschrien, beschimpft, gedemütigt, verhaftet, in Minibusse gezerrt und zum Verhör gebracht. Die Kleidervorschriften werden also wenn nötig auch mit Gewalt durchgesetzt.

15. September 2022

Mahsa Amini wird in einen Minibus gezerrt und mit weiteren "unislamisch" gekleideten Frauen abtransportiert. Es gibt ein Video, dass die Sittenpolizei veröffentlich, das Mahsa zeigen soll, wie sie in einem großen Raum einfach zusammenbricht. Als sie im Krankenhaus ankommt ist sie bereits tot - sagen die Ärzte im Kasra-Krankenhaus in Teheran.

Offiziell heißt es, sie sei an einem Herzversagen und Schlaganfall gestorben. Der behandelnde Arzt sagt an diesem Tag, dass aus ihrem Ohr Blut lief und ihre Augen dunkel unterlaufen waren. Keine Anzeichen für einen Herzinfarkt. Eine Hackergruppe soll die Seite des Krankenhauses gehackt haben und verbreitet Röntgenaufnahmen auf denen Verletzungen am Kopf von Mahsa Amini zu sehen sind.

Etwa 200 Personen haben sich vor dem Krankenhaus versammelt – die Aufmerksamkeit beginnt zu wachsen. Noch ist sie aber nicht so groß, dass die Ärzte im Kasra-Krankenhaus das Gefühl haben, das Regime könnte ihnen verbieten zu sprechen. Sie antworten auf Fragen der Journalisten. Nilufar Hamedi, die Journalistin, die dazu beigetragen hatte, den Fall Amini öffentlich zu machen, sitzt seit 22. September im Iran in Haft.

16. September 2022

Die staatlichen Behörden melden: Mahsa Amini ist gestorben.

17. September 2022

Ein Bekannter aus Teheran schreibt mir: "Der Staat hat die Bekanntgabe ihres Todes verzögert, damit man die Sicherheitskräfte in ihrer Heimatstadt Saqqez in Position bringen können." Sie wissen, es wird Protest geben und mit den Kurden ist nicht zu spaßen. Und wirklich, auf Mahsas Beerdigung nehmen sich viele Frauen die Kopftücher von ihren Köpfen und rufen: "Tod dem Diktator" – und meinen Ayatollah Khamenei, Irans Revolutionsführer, oberstes Staatsoberhaupt, sinnbildlich steht er für die Islamische Republik. Auf dem Grabstein von Mahsa Amini steht: "Du bist nicht gestorben, Dein Name wird ein Code sein."

Europäische Perspektiven

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19./20. September 2022

Mahsa Amini ist zum Code geworden, für die Proteste der folgenden Tage, landesweit gehen jetzt Menschen auf die Straße. Städte wie Zanjan, Hamedan, Tabriz, Kermanschah, Arak und natürlich Teheran. Mehr Städte als bei den landesweiten Demonstrationen der "Grünen Bewegung" 2009 schließen sich den Protesten an. Immer mehr Frauen nehmen sich ihr Kopftuch ab - verbrennen es, schneiden sich ihre Haare ab, aus Solidarität zu Mahsa, aus Wut dem Regime gegenüber. Unter frenetischem Beifall der Massen.

Die Kalkulation der Frauen: Wenn es zu viele sind, dann kommt die Sittenpolizei nicht mehr nach. Wenn das so bliebe, hätte die iranische Gesellschaft ihren wichtigsten Erfolg durch Proteste erreicht. "Die Veränderungen aus eigener Kraft im Inneren eines Landes sind nachhaltig," sagt mir eine Iranerin. "Die US-Sanktionen haben nur die Mittelschicht verarmt und die Machtelite reicher gemacht."

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19. September 2022: Tausende demonstrieren in der iranischen Hauptstadt Teheran.

Die Demonstranten riskieren alles – besonders die Frauen. Noch nie habe ich so viele Frauen bei Protesten gesehen, die einfach kein Kopftuch mehr tragen. Allein schon dafür kann es Gefängnisstrafen geben. Im Iran gehst du nicht protestieren und rollst dann dein Plakat wieder zusammen und gehst nach Hause. Wenn du im Iran auf die Straße gehst, dann kann es sein, dass du verhaftet wirst - ziemlich sicher sogar, dass du gefoltert wirst oder einfach verschwindest.

21. September 2022

Das Internet wird vom Regime gedrosselt, WhatsApp und Instagram gesperrt. Die einzige Waffe, die die Zivilbevölkerung hat. Durch Verbreiten von Videos, die die brutale Niederschlagung der Proteste dokumentiert, schaffen sie so eine weltweite Aufmerksamkeit. Internationale Journalisten sind im Iran kaum noch vorhanden, und wenn – dann wird ihnen verboten die Proteste zu drehen.

Während der letzten großen Proteste 2009 war es dem System noch nicht möglich, was es heute kann. Die iranische Telekombehörde kann binnen kürzester Zeit den gesamten Internetverkehr fast nach Belieben drosseln, umleiten oder sperren. Dann wird es nicht nur schwarz und keiner kann mehr Bilder über die brutale Niederschlagung veröffentlichen. Die Zivilbevölkerung kann sich auch nicht mehr über die Sozialen Medien organisieren.

22. September 2022

Am Morgen macht sich großer Frust breit. "Wie sollen wir uns organisieren, wie wissen, wo die anderen sind, nur in der Masse können wir uns schützen". Kein Internet, keine Sozialen Medien, eine religiöse Machtelite, für die ein Menschenleben nichts wert ist und tausende schwer bewaffnete Sicherheitseinheiten, inklusive einer freiwilligen Miliz in Millionenstärke.

Und trotzdem sind sie gekommen. Die Menschen in Irans Städten, aus allen Schichten der Gesellschaft. Alle Generationen. Die ältere Generation geht auf die Straße, auch aus Schuldgründen, denn sie haben ihren Kindern dieses Erbe hinterlassen: Die Islamische Republik. Die kaum noch einer will.

Seit Monaten gab es immer wieder Proteste - im ganzen Land, aus verschiedenen Gründen wie Wasserknappheit, massiven Lebensmittelpreissteigerungen und nicht ausgezahlten Gehältern. Die Bevölkerung verlangt jedoch nicht mehr nach Reformen und Verbesserung innerhalb des Systems. Ihre Slogans auf den Straßen: "Tod dem Diktator" oder "Nieder mit dem Regime." Und das macht das Regime extrem nervös.

23. September 2022

Am 23. September verlautet die Islamische Republik die offizielle Todeszahl: 31. Bisher. Die inoffizielle Zahl wird um ein Vielfaches höher liegen.