Baustelle der zweiten Stammstrecke April/2023
Bildrechte: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

Großprojekt in München: Das Debakel um die zweite Stammstrecke

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Warum sich die zweite Stammstrecke zum Debakel entwickelt

Mehr als doppelt so teuer wie geplant, die Eröffnung um Jahre verzögert – die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München droht sich einzureihen in den Reigen deutscher Chaos-Großprojekte. Wann sind die entscheidenden Fehler passiert – und wer ist schuld?

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Andreas Scheuer ist als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss Stammstrecke geladen. Ob er mitverantwortlich sei, für das Chaos beim Münchner Großprojekt? – "Also mir kann keiner etwas vorwerfen", sagte Scheuer (CSU) vergangenen Montag im Ausschuss, schließlich handle es sich bei der zweiten S-Bahn-Stammstrecke nicht um ein Projekt des Bundes. Insofern könne es von dieser Seite auch keine Versäumnisse geben, so der Bundesverkehrsminister der Jahre 2018 bis 2021.

Fest steht: Versäumnisse gab es bei dem Bau zuhauf. Nicht umsonst sind die Kosten des Projekts explodiert, der zeitliche Fahrplan vollkommen obsolet. Wer dafür verantwortlich ist, will der seit Ende vergangenen Jahres arbeitende Untersuchungsausschuss klären. Das BR-Politikmagazin Kontrovers hat den Zeitablauf der Pannenserie zusammengetragen.

Der ursprüngliche Plan: 3,8 Milliarden Euro und elf Jahre Bau

Rückblick: Im April 2017 startet das Vorhaben "Zweite S-Bahn-Stammstrecke". Elf Jahre später, 2028, sollen die ersten Züge rollen. Die Kosten des Projekts belaufen sich auf rund 3,8 Milliarden Euro – so jedenfalls der Plan. Bei den damals Verantwortlichen ist die Stimmung euphorisch. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer spricht von einer "Jahrhundertentscheidung", für den frisch ins Amt berufenen Bahn-Chef Richard Lutz steht das Projekt "ganz im Zeichen 'Zukunft Bahn'". Und Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) sieht einen "historischen Tag".

Die zweite S-Bahn-Stammstrecke, quer durch den Untergrund der Münchner Innenstadt, soll das störanfällige Netz verbessern und die Taktung der Bahnen erhöhen. Das Vorhaben ist schon vor Baubeginn hoch umstritten. Manche Kritiker zweifeln bis heute am Nutzen: "In meinen Augen hat die CSU diese Stammstrecke durchgesetzt, weil sie unbedingt ein großes milliardenschweres Prestigeprojekt in München haben wollte", so der grüne Landtagsabgeordnete Markus Büchler gegenüber dem BR-Politikmagazin Kontrovers. In der Stadt gibt es damals Demonstrationen gegen den Bau. Doch die Verantwortlichen lassen sich nicht beirren.

Vermerk: Stammstrecke "kein Gewinnerthema im Wahlkampf"

Wohin sich Kosten und Projektfahrplan entwickeln, interessiert die Staatsregierung offenbar über Jahre nicht – bis zum Herbst 2020. Da überreicht die DB Netz AG dem bayerischen Verkehrsministerium eine brisante Präsentation. Bei den Kosten würde es "massive Korrekturen nach oben" geben. Außerdem werde der Bau erst 2034 fertiggestellt. Die damals zuständige Ministerin Kerstin Schreyer (CSU) informiert umgehend die Staatskanzlei. Dort verfasst der zuständige Referatsleiter einen Vermerk, wonach die zweite Stammstrecke "kein Gewinnerthema im Wahlkampf" sei. Der Vermerk liegt dem BR vor.

Weiter heißt es: Politische Linie der Staatskanzlei sei es, das Thema bis nach der Bundestagswahl "dilatorisch" – also verzögernd – zu behandeln. Für die Opposition eine Strategie zulasten der Steuerzahler und zugunsten der CSU. Zwar habe Ministerin Schreyer bei Bahn, Staatskanzlei und Bundesminister Scheuer nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das Projekt davongaloppiere – "Aber das ist unter den Teppich gekehrt worden", sagt die stellvertretende Vorsitzende des U-Ausschusses, Inge Aures (SPD), heute.

Verkehrsprofessor relativiert Schuldfrage für Kosten und Verzögerung

Erst eineinhalb Jahre später informiert Schreyers Nachfolger Christian Bernreiter die Öffentlichkeit. Neue Kostenschätzung: 7,2 Milliarden Euro und Inbetriebnahme "in einem Zeitfenster bis 2037". Das verkündet der CSU-Verkehrsminister im Juni 2022. Aufgrund von Teuerung und Inflation geht die Baubegleitung des Freistaats inzwischen sogar von 8,5 Milliarden Euro Gesamtkosten aus – sofern der Zeitplan nicht abermals gerissen wird.

Stuttgart21, Elbphilharmonie, Berliner Flughafen und jetzt die Stammstrecke – warum entwickeln sich große Infrastrukturprojekte in Deutschland immer wieder zum Debakel? Für Klaus Bogenberger, Professor für Verkehrstechnik an der TU München, liegt das vor allem an der Komplexität der Vorhaben. "Wir reden hier über Tausende von Einwänden bei Großprojekten. Das verzögert die Planungsphase", so Bogenberger. Beim Bau selbst handle es sich um große Eingriffe, bei denen nicht alles vorhersehbar sei. Da werde neu justiert und nachgelegt, das verursache Kosten und Verzögerungen – mit dem Essen komme der Appetit, so Bogenberger.

SPD: "Wir werden hier im Landtag für blöd verkauft"

Der Appetit auf die Stammstrecke dürfte der Staatsregierung in den letzten Monaten vergangen sein. Im Juli vergangenen Jahres sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU): "Alle Fakten müssen auf den Tisch. Und dann muss überlegt werden, wie man mit der Situation umgeht." Es brauche alle Maßnahmen, um Kosten zu optimieren und Prozesse zu beschleunigen.

Alle Fakten auf den Tisch? Vor dem Untersuchungsausschuss sagt Ex-Bundesverkehrsminister Scheuer, er könne sich nicht erinnern – weder an ein Telefonat, in dem ihm Ex-Landesverkehrsministerin Schreyer im Herbst 2020 von den Problemen mit der zweiten Stammstrecke erzählt haben will, noch an ihre Bitte um ein Gespräch zu dem Thema. Von den Milliarden an Mehrkosten und der Verzögerung um Jahre habe er in seiner Zeit als Minister nichts gewusst, sondern davon erst aus der Presse erfahren, sagt Scheuer. Die Opposition hält diese Wissens- und Erinnerungslücken für nicht glaubhaft: "Wir werden hier im Landtag für blöd verkauft", sagt SPD-Politikerin Aures.

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