Verzweifeltes Kind sitzt auf dem Bett und hält sich die Hände vors Gesicht (Symbolbild)
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Verzweifeltes Kind sitzt auf dem Bett und hält sich die Hände vors Gesicht (Symbolbild)

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Sechs Wochen Angst - Albtraum in bayerischen Kinderkurheimen

Kinderkuren boomten ab den 50ern: Als Verschickungskinder verbrachten selbst Kleinkinder Wochen in Heimen, deren oberstes Ziel es oft war, messbare Kurerfolge zu erzielen. Viele leiden darunter bis heute. Eine Story von BR Recherche und Kontrovers.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Das Dokument, das dem BR vorliegt, ist 45 Jahre alt und gibt einen kleinen Einblick in das, was in Kinderkurheimen geschah. Der sogenannte Kurüberwachungsschein beschreibt den gesundheitlichen Zustand eines siebenjährigen Jungen, der im Jahr 1976 auf einer Kinderkur in Bayern war. 20 Kilo wog er zu Beginn seines Aufenthalts, nach sechs Wochen hatte er angeblich 2,5 Kilo zugenommen, ganz im Sinne des ärztlich definierten Kurzieles: "Allgemeinzustand sehr verbessert, Sollgewicht fast erreicht", notiert der Kurheimarzt.

Die Kontrovers Story: Albtraum in bayerischen Kinderheimen

Einsatz von medizinischen Appetitanregern?

Auch vermerkt auf dem Schein ist die Medikation: Der Junge sollte neben Aufbaumitteln ein Medikament namens Nuran bekommen. Nuran ist ein Medikament mit einem Wirkstoff, der eigentlich bei Allergien eingesetzt wird. Der gesteigerte Appetit ist eine der bekannten Nebenwirkungen - neben Schläfrigkeit oder Sehstörungen. Bei höherer Dosierung drohen Halluzinationen.

Der Kurüberwachungsschein wurde vom Heimarzt des Klosters Wessobrunn ausgestellt. Das Kloster südlich des Ammersees warb damit, dass die Kinder auf der sechswöchigen Kur viel Bewegung und frische Luft bekommen sollten. Kränkliche Kinder sollten so gesünder werden, dicke Kinder abnehmen und dünne Kinder zunehmen. Quer durch Deutschland wurden daher Kinder mit Zug und Bus meist auf Empfehlung von Ärzten nach Wessobrunn geschickt. Verschickungskinder nannte man sie. Für manche von ihnen wurde der Aufenthalt zur Qual.

Essenszwang und Isolation

Birgit kam mit sieben Jahren nach Wessobrunn. Auch sie galt als zu dünn und sollte in der Kinderkur zunehmen. Doch das Mädchen hatte von Anfang an Heimweh, konnte nicht die großen Portionen essen, die ihr vorgesetzt wurden. Ihre damalige Gruppenleiterin, eine Angestellte des Klosters, habe sie gezwungen, sitzenzubleiben, bis der Teller leer war, erinnert sie sich. Eines Nachmittags sei es zur Eskalation gekommen: "Dann hat sie mich irgendwann an meinen Haaren gepackt, den Kopf nach hinten gezogen, mir einen Trichter in den Hals gerammt und hat das Essen püriert reingekippt. Anschließend habe ich mich in den Suppenteller erbrochen", erinnert sich die heute 52-Jährige. Nach diesem Vorfall habe sie für den Rest der Kur im Schlafsaal bleiben müssen. Nur für die Mahlzeiten und für Arztbesuche hätte sie rausgedurft. Bis heute, so der Vorwurf von Birgit, leide sie unter Angstzuständen.

Damalige Betreiber räumen Versäumnisse ein

Der Kinderkurbetrieb im Kloster Wessobrunn ist inzwischen eingestellt, das Kloster wurde an einen Privatinvestor verkauft. Die damaligen Betreiber des Kurheims, die Missions-Benediktinerinnen, räumen auf BR-Anfrage ein, dass damals auch Fehler gemacht worden seien. "Aber die Grundintention war, den Kindern etwas Gutes zu tun und dass das nicht immer gelungen ist, das können wir nur zugeben", so Schwester Rachel Feller, die als Ansprechpartnerin der Missions-Benediktinerinnen für ehemalige Verschickungskinder zur Verfügung steht. Zwar fänden sich im Archiv fast keine Akten mehr zu den Kinderkuren, aber man wolle bei der Aufarbeitung so gut es gehe helfen.

Druck auf die Betreuer der Kinder

Schwester Georgia, eine heute über 80-jährige Benediktinerin, die ab Mitte der 70er-Jahre als Erzieherin in der Kinderkur arbeitete, hat nach eigenen Aussagen keine Vorkommnisse, wie sie Birgit beschreibt, miterlebt. Sie verurteilt Gewalt gegenüber Kindern. Doch sie erinnert sich an den großen Druck, unter dem die Erzieherinnen und Erzieher standen. "Es musste ein Kurerfolg da sein, egal was passierte", erinnert sich Schwester Georgia.

"Wenn der Kurerfolg nicht da war, dann wurden keine Kinder mehr geschickt und das war dann eine finanzielle Einbuße." Schwester Georgia, Missions-Benediktinerinnen Tutzing

Grausamen Methoden in bayerischen Kinderkurheimen

Ab den 50er-Jahren bis Mitte der 80er boomten Kinderkuren. Nach Schätzungen wurden acht Millionen Kinder in dieser Zeit verschickt, meist für sechs Wochen. Die meisten Verschickungskinder waren an der Nordsee, doch viele kamen auch nach Bayern. Schon in den 50er-Jahren gab es über 200 Kinderkurheime im Freistaat, rund ein Viertel aller Heime in Deutschland. Träger waren neben kirchlichen Institutionen auch Wohlfahrtsverbände oder Privatpersonen.

Journalisten von BR Recherche und des BR-Politikmagazins Kontrovers haben mit rund zwanzig ehemaligen Verschickungskindern über ihre Erfahrungen in bayerischen Heimen ausführlich gesprochen. Einige haben gute Erinnerungen, doch viele erinnern sich an Einsamkeit, Angst und Bestrafungen: Selbst Erbrochenes musste in manchen Heimen wieder gegessen werden. Kinder bekamen Schläge oder mussten zur Strafe im Keller sitzen. Auch körperlichen Missbrauch soll es gegeben haben.

Aufarbeitung in Bayern steht ganz am Anfang

Viele ehemalige Verschickungskinder wünschen sich eine Anerkennung ihres Leids. Diese Aufarbeitung sei auch aus gesellschaftlicher Sicht für die Betroffenen wichtig, so Kinderpsychiater Professor Jörg Fegert vom Universitätsklinikum Ulm: "Es ist eine lange Tradition, dass wir quasi Opfern unterstellen, dass das, was sie sagen, nicht glaubwürdig ist." Darum sei es wichtig, alte Akten auszuwerten.

"Wie war dieses Gewaltsystem damals? Und wie kann man heute schauen, dass man Betroffenen gerecht wird und dass man ihr Leid anerkennt?" Prof. Jörg Fegert, Universitätsklinikum Ulm

Einige ehemalige Träger der Erholungsheime haben Historiker mit Aktenauswertungen beauftragt, sofern noch eine Dokumentation vorhanden ist. Auf politischer Ebene aber stockt die Aufarbeitung. Die SPD-Landtagsabgeordnete Doris Rauscher setzt sich für Verschickungskinder, die in Bayern waren, ein - auch ihre Mutter war ein Verschickungskind und war in der Kur schwer erkrankt. Ihr Antrag auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung auf Landesebene wurde Anfang dieses Jahres im Landtag abgelehnt - der Bund solle übernehmen. Rauscher spricht sich nun für eine bayerische Landeskoordinatorenstelle aus, um die Bemühungen um Aufklärung zu vernetzen.

"Manche ehemaligen Verschickungskinder haben bereits ein hohes Alter und sind trotzdem noch immer schwer traumatisiert, von dem, was sie damals erlebt haben." Doris Rauscher, SPD, Landtagsabgeordnete

Das Sozialministerium erklärt auf Anfrage des BR, die Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder sei angewiesen worden, sich auch um ehemalige Verschickungskinder zu kümmern. Dort sind aber bislang kaum Anfragen eingegangen, denn kommuniziert wurde diese Anlaufstelle nicht. Nach 2022 soll sie - so der aktuelle Stand - ganz eingestellt werden.

💡 Anlaufstelle für Betroffene

Frühere Verschickungskinder organisieren sich inzwischen bundesweit. In dem Verein "Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickung" vernetzen sich Ehemalige und engagieren sich in der Recherche des Vereins zu den Kinderkurheimen. Den Verein finden Sie im Internet unter https://verschickungsheime.de

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