Ein junger Mann sitzt am Fenster (Symbolbild)
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Immer mehr Jugendliche haben lebensmüde Gedanken, wie eine internationale Studie zeigt.

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Suizid: Hilfe für Jugendliche dringend gesucht

Immer mehr Kinder und Jugendliche haben lebensmüde Gedanken, haben Wissenschaftler festgestellt. Ihr Suizid könnte verhindert werden, wenn ihre psychischen Erkrankungen rechtzeitig erkannt würden. Deswegen fordern Eltern und Ärzte mehr Prävention.

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Marc war erst 17, als er sich das Leben nahm. Das war vor einem Jahr, im Familienurlaub am Schliersee, nach dem Abendessen. "Wir haben es nicht kommen sehen", sagt Mutter Ute P. Ihr sei zwar aufgefallen, dass sich ihr Sohn öfter in sein Zimmer verkrochen habe, nachts habe er lange telefoniert. Auf ihre Nachfrage sagte er, es sei nichts.

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Marc war ein guter Schüler, hatte Freunde. Aber Corona, Homeschooling, fehlende Treffen, das habe ihm schon zugesetzt. Auf eigenen Wunsch wurde Marc vor seinem Tod einen Monat in einer Münchner Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär behandelt.

Wenn die Eltern nichts mehr tun können

Bei der Entlassung sagte der Schüler, es ginge ihm wieder besser, die Klinik sah seinen Zustand als stabil an. Dann der Urlaub mit traurigem Ende. Am ersten Jahrestag war Marcs Tod immer noch unfassbar für die Familie. "Die Wunde in meiner Seele wird nie heilen", sagt Mutter Ute. Sie könne nur immer wieder neue Pflaster draufkleben, durch Gespräche, Therapien, Selbsthilfegruppen.

Zahl lebensmüder Jugendlicher seit Corona fast verdoppelt

"Wir brauchen mehr Prävention über psychische Erkrankungen", fordert Professor Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU München. Denn seit Beginn der Pandemie habe sich die Zahl der unter 18-Jährigen, die lebensmüde Gedanken haben, fast verdoppelt, auf 37 Prozent. Das belegt eine internationale Studie aus der medizinischen Fachzeitschrift Psychiatry Research (2022).

Damit es gar nicht erst soweit kommt, sei es umso wichtiger, gezielt auf junge Menschen zuzugehen, sagt Schulte-Körne. Je früher, umso besser. Einerseits durch Informationsangebote gezielt für Kinder aus Familien mit psychischen Vorerkrankungen (wie Angststörungen), Belastungsfaktoren (wie Geldnot, Kriegstraumata) oder Entwicklungsstörungen (wie ADHS). Andererseits auch durch Vorsorge bei bisher nicht erkrankten Kindern und Jugendlichen. Darüber hinaus müssten diejenigen besonders betreut werden, die bereits an psychischen Symptomen leiden oder schon genesen sind, damit es keine Verstärkung bzw. Rückfälle gibt.

Junge Menschen mit depressiven Symptomen ansprechen

"Du hast dich in letzter Zeit verändert, Du ziehst Dich zurück, Du schläfst schlecht - hast Du lebensmüde Gedanken?" - so sollten Eltern ihre Kinder ansprechen, wenn diese depressive Symptome zeigen, empfiehlt Kinder- und Jugendpsychiater Schulte-Körne. "Das Allerwichtigste ist der direkte Kontakt." Wiederholtes Nachfragen sei vor allem dann wichtig, wenn sich das Kind oder der Jugendliche über mehrere Wochen zurückziehe, Sozialkontakte und Hobbies vernachlässigt. Dann könnte hinter dem Verhalten mehr stecken als eine pubertäre Verstimmung.

Freunde sind besonders wichtig

"Wenn ein Kind oder Jugendlicher oft in der Schule fehlt, sich nicht mehr meldet, dann sind auch die Freunde gefordert", so Schulte-Körne. Am besten daheim vorbeischauen, anrufen, Kontakt aufnehmen, bei anderen Freunden nachfragen. Im Notfall auch direkt die Eltern ansprechen. "Wir machen uns große Sorgen, wir kommen nicht mehr in Kontakt. Was können wir tun?"

Jedoch darf sich auch niemand schuldig fühlen, wenn sie ihrem oder er seinem Kind, seinem Freund, seiner Freundin mit lebensmüden Gedanken nicht helfen kann. "Es sind Entscheidungen, die Jugendliche manchmal treffen, die für niemanden nachvollziehbar sind", so Schulte-Körne.

Thema "Psychische Gesundheit" in der Schule verstärken

Kinder und Jugendliche verbringen sehr viel Zeit in der Schule. Deswegen fordern Mediziner dort mehr Raum für das Thema "Psychische Gesundheit". Zum Beispiel durch eine vermehrte Anstellung von Schulsozialarbeitern und Schulpsychologen. Auf BR-Anfrage teilt Bayerns Kultusministerium mit, dass in der aktuellen Legislaturperiode 200 zusätzliche Stellen für Schulsozialpädagoginnen und Schulsozialpädagogen eingerichtet werden. Die Stellenverteilung erfolge dabei bedarfsgerecht und berücksichtige alle Schularten.

Jede Lehrerin, jeder Lehrer werde auch während des Vorbereitungsdienstes für psychische Erkrankungen bei Schülerinnen und Schülern sensibilisiert, die diagnostische Kompetenz geschult. Laut Ministerium werden außerdem regelmäßig Fortbildungen zur psychischen Gesundheit angeboten.

Projekttage und Elternabende könnten helfen

Ute P. erinnert sich noch genau daran, wie bestürzt viele Lehrer auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes reagierten und wie überfordert sie schienen. "Ich hab' mich gefragt, wie die Lehrer mit den Mitschülern das Ereignis aufarbeiten können." Schwierig für beide Seiten. Die Mutter würde sich wünschen, dass das Thema Depression im geschützten Raum Schule intensiver behandelt würde, etwa bei Projekttagen, Elternabenden, im Unterricht. Studien belegen, dass Präventionsprogramme besonders effektiv wirken, wenn sie im Rahmen eines Jahres wiederholt werden.

  • Zum Artikel: "An Bayerns Gymnasien fehlen Sozialarbeiter"

Viele holen sich aus Scham keine Hilfe

Die gute Nachricht: Es gibt schon viele Informationsangebote. Und wer Hilfe braucht, der bekommt in Bayern auch einen Therapieplatz, wenn auch häufig erst nach Wartezeiten. Dennoch: Nur ein Viertel der Kinder und Jugendlichen mit einer psychischen Belastung in Deutschland nimmt professionelle Hilfe in Anspruch. "Schule könnte sich mehr öffnen für professionelle Versorgungsangebote", so der Wunsch des Münchner Kinder- und Jugendpsychiaters Gerd Schulte-Körne.

Links zu Hilfsangeboten:

Der Bayerische Rundfunk berichtet - vor allem wegen möglicher Nachahmer-Effekte - in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer die zuständige Redaktion sieht es durch die Umstände der Tat geboten. Sollten Sie selbst Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Beratung erhalten Sie unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222. Weitere Hilfsangebote gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

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