Kinderarzt Philipp Schoof aus München untersucht einen seiner Patienten.
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Kinderarzt Philipp Schoof aus München untersucht einen seiner Patienten.

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Was der Antibiotika-Mangel für Familien bedeutet

Gehortete Penicillin-Säfte, beunruhigte Eltern und ernsthaft kranke Kinder: Überall in Bayern fehlen Antibiotika für die jungen Patienten. Der Mangel sei hausgemacht, sagen Experten – und er kann richtig gefährlich werden.

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Die Apothekerin Ingrid Kaiser streckt ihren Zeigefinger aus, als solle darauf ein Schmetterling landen. Aber das ist gar nicht ihr Plan: "So kann ich ein Milligramm mit der Fingerwaage abmessen", sagt sie. Das habe sie alles im Studium gelernt. "Und wenn es so weitergeht, dann werde ich dieses Notfall-Wissen auch wieder anwenden müssen." Seit 30 Jahren ist Kaiser Apothekerin, sagt sie, aber so etwas wie zurzeit habe sie noch nie erlebt.

Im Notdienst werden Eltern weggeschickt

Was Kaiser meint, ist der eklatante Mangel an Antibiotika-Säften, insbesondere für Schwangere, Stillende und Kinder. Schon jetzt gehen einige ihrer Kolleginnen und Kollegen dazu über, selber Penicillin- oder Amoxicillin-Tabletten herzustellen, berichtet die Sprecherin des bayerischen Apothekerverbands. Die Eltern sollen das dann zerstampfen, mit Apfelmus vermischen und den Kindern geben. Die Alternative wäre, die Eltern wieder wegzuschicken. Kaiser selbst muss das pro Nacht-Notdienst etwa fünf Mal tun.

Grund für diesen Mangel seien nicht unbedingt die vielen Kranken, glaubt Kaiser. Sondern dass in der deutschen Gesundheitspolitik lange Zeit so heftig gespart wurde, dass es sich für die Hersteller einfach nicht mehr lohnt, ihre Präparate nach Deutschland zu importieren. In anderen europäischen Ländern jedenfalls sei der Mangel an Medikamenten nicht so groß wie hier.

Kinderarzt: Immunkräfte vieler Kinder nach Pandemie geschwächt

Der Münchener Kinderarzt Philipp Schoof stimmt dem zu, er sieht aber auch noch einen anderen Aspekt: "Wir erleben gerade, dass Lockdowns, Kontakt-Armut und das Tragen von Masken die lokale Schleimhaut-Abwehr offenbar aus der Übung gebracht haben." Und, so vermutet Schoof, nachdem die Immunsysteme vieler Kinder durch die vielen Virusinfektionen im ersten Post-Corona-Winter geschwächt waren, haben es Bakterien wie Streptokokken jetzt leichter, in den Organismus einzudringen. "Kinder erwischt es dann schneller als Erwachsene, die haben noch nicht so viele Abwehrkräfte", erklärt Schoof.

In seiner Kinderarzt-Praxis verschreibt er täglich bis zu 40 Mal eine Therapie mit Antibiotikum. Und das bei maximal 150 Kindern, die er pro Tag untersucht. Das tue er natürlich nicht einfach so, sondern nur, wenn es wirklich sein müsse. Er habe da sehr strenge Vorgaben, berichtet der Arzt. Und genau das sei auch der Unterschied zum Mangel an Husten- oder Fiebersäften im vergangenen Winter: Bei einem Antibiotikum geht es wirklich akut darum, das Leben des Kindes zu schützen.

Der Großteil der Streptokokken-Erkrankungen sei zwar schmerzhaft, aber auch ohne Antibiose heilbar, erklärt der Kinderarzt weiter. Aber es gebe eben auch Fälle, wo die Bakterien den Körper so stark beeinflussen, dass das Kind im Krankenhaus aufgenommen und beatmet werden muss. Auch bei ihm in der Praxis hat es so einen Fall gegeben – weil nicht rechtzeitig das richtige Medikament dagewesen sei. Das Kind war für mehrere Wochen auf Station, inzwischen geht es ihm wieder gut.

Eltern sollten Ruhe bewahren und vorab anrufen

Kinder werden in Krankenhäuser eingewiesen und Eltern in Apotheken abgewiesen – sowohl für den Kinderarzt als auch für die Pharmazeutin sind das unhaltbare Zustände. Alles, was sie tun können, ist, die Eltern darum zu bitten, Ruhe zu bewahren. "Ich bin für jeden Kinderarzt oder Notarzt dankbar, der vorher in der Apotheke anruft und fragt: Was haben Sie denn da?", berichtet Ingrid Kaiser. Und auch die Eltern sollten vorab in den Apotheken nachfragen und sich über verfügbare Medikamente informieren.

Dazu rät auch der Kinderarzt Philipp Schoof: "Und auf keinen Fall sollte man irgendein Antibiotikum geben. Es muss unbedingt das eingenommen werden, was der Arzt verordnet hat, das ist wichtig." Er habe aber schon mitbekommen, dass Eltern in ihrer Sorge die Medikamente horten oder sogar die übriggebliebenen Tabletten von der letzten Blasenentzündung verabreichen.

Zustand dürfte bis zum Sommer anhalten

Der aktuelle Mangel an Antibiotika ist keine zufällige Momentaufnahme. Er wird noch anhalten, schätzt die Apothekerin Ingrid Kaiser. Sie hat bei den zwei verbliebenen Antibiotikums-Herstellern in Deutschland nachgefragt: Erst zum Sommer wollen die ihre Produktion für das Allerwelts-Mittel Penicillin wieder hochfahren.

Kinderarzt Philipp Schoof hofft, dass die derzeitige Situation wenigstens einen positiven Effekt hat und die zuständigen Politikerinnen und Politiker wachrüttelt. Er hofft, dass jetzt der Moment gekommen ist, um die medizinische Versorgung in Deutschland umzustrukturieren. In ein funktionierendes System, in dem zwar nicht immer jeder alles bekommen kann – aber alle alles bekommen, was sie wirklich brauchen.

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