Sie war die erste Gerichtsreporterin in der Weimarer Republik, sie wusste genau Bescheid über den gewalttätigen Nazi-Terror in den Straßen.1929 berichtete Gabriele Tergit über den ersten Prozess gegen Hitler und Goebbels, es ging um ein Pressevergehen: "Was wäre gewesen, wenn ich einen Revolver dabei gehabt hätte? Ich saß wenige Meter von den Angeklagten entfernt, hätte ich sie erschossen, hätte ich Millionen das Leben gerettet, aber wer konnte ahnen, wie die Dinge weitergehen?"
Süddeutsch und kunstsinnig
So zitiert Nicole Henneberg aus den Aufzeichnungen der Schriftstellerin. Henneberg ist die Herausgeberin der Neuauflage von Tergits Büchern, darunter das Opus Magnum, der umfassende, erschütternde, lustige, wunderbare Roman "Effingers". Auch für ihn gilt, dass Tergit – natürlich! – nicht wissen konnte, was kommen würde, als sie 1932, gerade berühmt geworden mit dem unterhaltsamen Bestseller "Käsebier erobert den Kurfürstendamm", ein neues Roman-Projekt in Angriff nahm. Ein ganz großes Buch sollte das werden, Vorbild war natürlich die Familie Buddenbrook. Die Effingers, assimilierte deutsche Juden, geben sich preußisch, süddeutsch, patriotisch, liberal, kunstsinnig, rebellisch, modern, voller Unternehmergeist. Und sie feiern gern.
Dass diese Familie Effinger jüdisch ist, spielt manchmal eine Rolle und meistens nicht, eine Normalität, in die das Buch beim Lesen heute – zumindest ein bisschen – wieder eintauchen lässt. Eine Normalität, an die Gabriele Tergit 1932 noch geglaubt haben muss. Ein Jahr später verwüstete die SA die Wohnung der Autorin.
Sie kannte den Hass
"Sie ist sofort abgereist", sagt Nicole Henneberg, "als Gerichtsreporterin kannte sie den Hass, der in der Gesellschaft entstanden war, und der nur ins Verhängnis führen konnte." Gegen Ende des Romans, die Handlung hat dann ebenfalls das verhängnisvolle Jahr 1933 erreicht, trifft Lotte Effinger ebenso kurz entschlossen die gleiche Entscheidung: "In diesen Straßen mit den grauen Häusern war sie geboren worden, und darum hing sie an allem, was mit dieser Stadt zusammenhing. Am Keller mit Heringen, an der kleinen Maßschneiderei und am Thanatos-Beerdigungsinstitut."
"Effingers", das schnell wachsende Manuskript, wird Tergits Heimat im Exil, in der Tschechoslowakei, in Palästina, in England. Bis zum Kriegsende und darüber hinaus schreibt sie daran, versetzt sich und uns ins martialische Denken der Bismarck-Ära und in den Gründerzeit-Luxus unter Kaiser Wilhelm, schildert detailreich und keck Wohnzimmereinrichtungen, Menü-Folgen, Abendgarderoben, dazu natürlich Leid und Liebe, Geld und Gut, Kampf und Tod – und die Schraubenfabrik. Mit der fing alles an, später werden die Effingers sogar Automobile bauen. Ungewöhnlich prominent sind auch Wirtschaftsthemen in diesem Roman vertreten.
Von den Wirren des Ersten Weltkriegs geht es zu den Provokationen der nächsten Generation, in die Republik – immer näher heran an Tergits Gegenwart. In der herrscht die NS-Diktatur, der nächste Weltkrieg beginnt. So muss schließlich auch der Zivilisationsbruch des Holocaust in dem Roman Thema werden. Die bestialischen Begebenheiten in der Außenwelt verschieben die Schreib-Architektur, viele Figuren aus dem Clan der Effingers werden auch im Buch brutal ermordet. Die Handlung endet 1942, ein Epilog spielt in den Ruinen der Familienvilla im Tiergarten, 1948.
Hymnische Besprechungen
Das war das Jahr, in dem Gabriele Tergit zum ersten Mal nach Deutschland zurückkam und die Suche nach einem Verlag begann. Die Geschichte einer jüdischen Familie aber wollte man in Nachkriegsdeutschland sehr lange nicht lesen. Gerade mal 30 Buchhandlungen nahmen "Effingers" ins Angebot. Später gab es eine Wiederentdeckung in den 1970er-Jahren, richtig gefeiert wurde der Roman dann 2019 bei der Neuauflage im Schöffling Verlag. Seitdem ist die Literaturkritik sich einig: Er gehört in den Kanon. Wegen des frischen und modernen Stils, wie Herausgeberin Nicole Henneberg betont, aber auch wegen der brisanten und geradezu schmerzhaft aktuellen Themen.
Gabriele Tergit selbst hat die teilweise hymnischen Besprechungen im vergangenen Jahr nicht erlebt, sie starb schon 1982. Ihren "Effingers" – den Geschichten der Figuren und der Geschichte des Romans – möge ein langes literarisches Nachleben beschert sein. Sie haben es verdient.
"Effingers" von Gabriele Tergit ist im Schöffling Verlag erschienen
Ab dem 14. Oktober senden die Bayern 2 radioTexte eine vierteilige Lesung der "Effingers": immer donnerstags ab 21 Uhr (14., 21., 28. Oktober und 4. November). Natürlich gibt's alle Lesungen schon jetzt und sofort als Podcast, inklusive einiger Auszüge aus Tergits Biografie "Etwas Seltenes überhaupt" .
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