Der Politiker reicht am 31. Januar Unterschriften von Unterstützern ein
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Boris Nadeschdin

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"Soll alles schön sein": Kreml lehnt Antikriegs-Kandidaten ab

Boris Nadeschdin wollte mit einem liberalen Programm bei der Präsidentschaftswahl im März gegen Putin antreten, doch angeblich sind 15 Prozent der von ihm gesammelten Unterstützer-Unterschriften ungültig. Wähler seufzen: "Die Hoffnung ist gestorben."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Operation erfolgreich", spotteten russische Leser, als sie erfuhren, dass Antikriegskandidat Boris Nadeschdin höchstwahrscheinlich nicht zur russischen Präsidenten-Wahl Mitte März zugelassen wird. Der Mann hatte zwar die nötigen 100.000 Unterschriften eingereicht, doch schon vor Tagen wollte die zuständige kremltreue Wahlkommission unter den vorgelegten Namen "tote Seelen" entdeckt haben, also angeblich Verstorbene. Inzwischen verbreitete der für die "Prüfung" der Unterschriften zuständige Funktionär Igor Artemjew die Mär, eine erste, stichprobenartige Sichtung von Nadeschdins Unterschriftenliste habe ergeben, dass genau 15,348 Prozent der Namenszüge "Mängel" hätten, erlaubt seien laut Gesetz aber nur maximal fünf Prozent. Bei Putin wollte die Wahlkommission nur ganze 0,15 Prozent ungültige Signaturen festgestellt haben.

Offiziell soll am 7. Februar entschieden werden, welche Kandidaten antreten dürfen. Vertreter Nadeschdins bekräftigten, sie seien von der "Qualität der gesammelten Unterschriften" überzeugt: "Die ganze Welt hat die Warteschlangen gesehen." Politologe Konstantin Kalaschew bemerkte, ein elektronisches System könne das "voreingenommene und nicht ganz transparente" bisherige Verfahren zur Prüfung von Unterschriften sicherlich verbessern: "Schade nur, dass daran kein Mensch von Einfluss Interesse hat."

"Habe nichts anderes erwartet"

In Anspielung auf Nadeschdins Nachnamen ("Hoffnung") seufzten Wähler, diese Hoffnung sei jetzt endgültig gestorben: "Sie haben Angst vor ihm, das ist offensichtlich, ich habe nichts anderes erwartet." Kaum jemand zeigte sich überrascht, dass der Kreml den Oppositionspolitiker de facto aufs Abstellgleis schob, zumal es sowieso Gerüchte gegeben hatte, dass Nadeschdin nur ein Strohmann der Präsidentenverwaltung war, der liberale Putin-Gegner politisch einbinden sollte, um der Wahl einen demokratischen Anstrich zu verpassen. Inoffiziell wird für Putin ein (mutmaßlich geschöntes) Ergebnis zwischen 80 und 90 Prozent angepeilt. Russische Kolumnisten vermuteten, Nadeschdin habe sich aus Sicht wichtiger Putin-Gefolgsleute etwas zu lautstark für Waffenstillstandsverhandlungen eingesetzt und sei deshalb vorzeitig kaltgestellt worden.

"Schade um das Geld"

Ein offenbar belesener Russe verwies in diesem Zusammenhang auf ein berühmtes Zitat des Revolutionsdichters Wladimir Majakowski (1893 - 1930) aus dessen satirischem Gedicht "Hört mal zu" von 1914: "Wenn die Sterne leuchten, bedeutet das etwa, dass sie irgendjemand braucht? Heißt das, irgendjemand will, dass sie tatsächlich existieren? Heißt das, jemand rennt zu Gott, küsst dessen sehnige Hand und heult, dass es unbedingt einen Stern geben muss? Heißt das, es ist unverzichtbar, dass jeden Abend über den Dächern mindestens ein Stern blinken muss?"

Russische Meinungsforscher wollten für Nadeschdin eine potentielle Wählerschaft zwischen drei und zehn Prozent ermittelt haben. Experten hatten darüber diskutiert, ob der Kreml bereit sei, Oppositionsstimmen in dieser oder einer anderen Dimension zuzulassen, um der Wahl ein demokratisches Gepräge zu geben. Offenbar lautet die Antwort nein. "Hat irgendjemand daran gezweifelt?" fragten Leser sarkastisch. Andere meinten: "Schade um die Leute, die sich bei Eiseskälte in die Schlangen einreihten, um für Nadeschdin zu unterschreiben. Die Bojaren bekamen es mit der Angst zu tun." Es sei "schade um das Geld", das für die Wahl ausgegeben werde: "15,348 Prozent [der Unterschriften] mangelhaft – das ist Genauigkeit! Es ist sofort klar, dass die Zahlen nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern das Ergebnis ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit und von Präzisionsmessungen unter Einsatz der neuesten, bahnbrechenden Technologien darstellen. Das ist unvergleichlich."

"Es dominierte die Angst"

Es wurde daran erinnert, dass es in der Sowjetunion spöttisch hieß, das Zentralkomitee könne "Wunder bewirken". Das gelte jetzt offenbar für die Wahlkommission. Von einem "Zirkus" war die Rede. "Nun ja, wie ich bisher vermutet hatte", schreibt ein Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka": "Trotz des Wunsches, bei den Wahlen eine maximale Wahlbeteiligung zu erreichen, auch indem man zumindest den Anschein einer Alternative schafft, dominierte die Angst, dass es irgendwo in bestimmten Bereichen zu einem hässlichen Ergebnis kommen könnte. Und jetzt soll alles 'schön sein'."

Exil-Politologe Abbas Galljamow hatte, wie die meisten Beobachter, von Anfang damit gerechnet, dass Nadeschdin von der Wahl ausgeschlossen wird. Putin wolle nämlich im Grunde eine Volksabstimmung über seine Politik, keine Wahl im eigentlichen Sinne. Hinter den Kulissen habe es wohl einen Streit zwischen dem Kreml und der Wahlkommission gegeben, denn Putins Mann für die Innenpolitik, Sergej Kirijenko, habe zwar zunächst Nadeschdins Kandidatur als "liberaler Alternative" aus kosmetischen Gründen vorangetrieben, jedoch kalte Füße bekommen, als dessen Popularität in kürzester Zeit erheblich wuchs. Kirijenko stehe bei Putin im Wort, dem Präsidenten seine 80 Prozent Zustimmung zu garantieren.

"Ungenaue Angaben" und "Korrekturen"

Der russische Politologe Georgi Bovt fragte sich, ob die kritisierten Unterschriften nur "Mängel" hätten oder schlicht gefälscht gewesen seien: "Wenn wir nur über die fehlerhaften Unterschriften realer Personen sprechen, verzerrt die Zentrale Wahlkommission durch die Ablehnung solcher Unterschriften den Willen des Wählers und verstößt gegen den Geist der Verfassung. Theoretisch kann es keine fehlerhaften Unterschriften geben, wenn die Unterschrift von einer echten Person geleistet wurde." Die Behörden hatten verbreitet, manche Wahlberechtigte hätten ihren Namen nicht eigenhändig in die Listen eingetragen, es habe "ungenaue Angaben" und "Korrekturen" gegeben, manche Blätter mit Personalien seien nicht notariell beglaubigt gewesen.

Hat der Kreml für "schlechte" Unterschriften gesorgt?

Die im Ausland erscheinende "Novaya Gazeta Europe" will recherchiert haben, dass es unter Nadeschdins Unterstützern zwei konkurrierende Gruppen gab: Diejenigen, die von Vorneherein nicht an seinen Erfolg glaubten, nur etwas Geld verdienen wollten und entsprechend nachlässig Unterschriften sammelten, und echte Idealisten, die mit ihrem Engagement dafür gesorgt hätten, dass dann doch entgegen allen Erwartungen ausreichend viele Menschen erreicht wurden: "Es gab keine Kommunikation zwischen diesen beiden Teams." Bei den eher wenig motivierten Apparatschiks sei es strengstens untersagt gewesen, Fotos zu machen. Dort seien kurz vor dem Ende der Frist mitten in der Nacht Unterschriften "gemalt", letztlich 20.000 "schlechte" unter die "guten" gemischt worden und der Kommission vorgelegt worden, was natürlich Spekulationen nährt, inwieweit der Kreml seine Hände im Spiel hatte.

Polit-Blogger Ilja Ananjew glaubt, dass Putin jedenfalls berechtigte Sorgen habe: Es gebe eine "schwelende" Unzufriedenheit und genügend "gut organisierte" Leute, die mit Putin haderten. Darunter seien Anhänger des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, Kriegsgegner und "Radikale". Im Übrigen habe die Gefahr bestanden, dass Geheimdienste Nadeschdins Wahlkampf für ihre Zwecke nutzten. Kremlkritikerin Alina Wituknowskaja schrieb: "Wahlen zur Bestätigung einer Diktatur waren für uns sowieso nicht interessant, und jetzt sind sie doppelt uninteressant. Es besteht keine Notwendigkeit, in die Wahllokale zu gehen, es gibt niemanden, den man wählen kann. Nadeschdin war und bleibt allein als politischer Vertreter einer alternativen Friedensagenda interessant."

"Nein, sie haben kein politisches Gewicht"

Putin-Fan und Autor Nikita Podgornow argumentierte völlig anders: "Nadeschdins alternative Ansichten zur Spezialoperation und zur Wirtschaftsagenda mögen wie eine Meinung klingen. Sie sollten aber nicht wie eine ernsthafte politische Opposition zur zentralen Meinung des Spitzenkandidaten klingen. Ja, es gibt eine Reihe russischer Bürger, die mit Putins Konzeption nicht einverstanden sind. Ja, sie werden gehört. Nein, sie haben kein politisches Gewicht und beeinflussen keine Entscheidungsprozesse. Die Hauptlinie ist klar und die Geschlossenheit um sie herum ist maximal."

Entscheidend sei jetzt, wie weit Nadeschdin gehen wolle, um sich zu wehren, meinten mehrere Blogger. Bisher hatte der Politiker immer betont, er wolle sich strikt an Recht und Gesetz halten. Protestkundgebungen würden sicherlich verboten, so Beobachter, und über eine juristische Anfechtung würden die Gerichte womöglich erst im Sommer, also lange nach der Wahl entscheiden, natürlich im Sinne des Kremls. "Ich gehe davon aus, dass sich Nadeschdins Kampf hauptsächlich auf rechtliche Verfahren beschränken wird, was keine Gefahr für den Kreml darstellt", so der als "Auslandsagent" gebrandmarkte Blogger und Journalist Dmitri Kolesew (58.000 Fans).

"Zukunft als liberaler Hurensohn"

Politologe Sergej Starowoitow vom "Club der Regionen" scherzte, Nadeschdin könne ab sofort die offene Stelle des "liberalen Hurensohns" in Russland antreten, also als Pseudo-Watschenmann des Kremls herhalten. Alternativ dazu könne er sich einen warmen Posten bei der Parlamentswahl 2026 sichern, eine Fernsehkarriere starten oder als "Doppelagent" durch den Westen touren. Dagegen meinte Grigori Golosow ernsthafter, Nadeschdin werde womöglich schon bald als Ansprechpartner der russischen Opposition im Ausland dringend benötigt, um Verhandlungen auf den Weg zu bringen.

Übrigens sollen sich mehr als sechzig Druckereien in und um Moskau auf Anfrage geweigert haben, eine Wahlkampfzeitung von Nadeschdin zu drucken. "Nur in unserem Land ist es möglich, Präsidentschaftswahlen nicht nur ohne Debatten und Wahlprogramm, sondern auch ohne Konkurrenz zu gewinnen", fasste ein Leser Russlands Zustände zusammen.

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