Der russische Präsident trifft sich in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo außerhalb Moskaus mit Kriegsteilnehmern
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Neujahrstreffen mit Soldaten: Putin im Wahlkampf

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Russen hadern mit Putin: "Glaube an bessere Tage verschwindet"

Mit "bangen Hoffnungen" und wenig zuversichtlich schauen russische Kommentatoren auf 2024. Sie vermissen die gewohnte Festtagslaune zum Jahresauftakt und zweifeln an der eigenen Propaganda, auch an Putins Botschaften: "Denken Sie an den Preis."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Tatsache ist, dass die von der Rüstungsindustrie hergestellten Produkte im Allgemeinen nicht von der Bevölkerung konsumiert werden können", schreibt die russische Finanzexpertin Olga Belenkaja in ihrem Jahresausblick und blickt entsprechend skeptisch auf die kommenden Monate. Grund dafür: Putin gibt enorm viel Geld für seinen Angriffskrieg aus, was den Haushalt belastet und nach Auffassung vieler Beobachter auf Dauer den Wohlstand gefährdet.

Belenkaja, Abteilungsleiterin bei der russischen Finanzgruppe Finam, bezifferte die Kriegskosten auf 40 Prozent der staatlichen Gesamtausgaben und erwartet ein "Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage". Es sei viel Geld im Umlauf, weil die Soldaten und die Rüstungsbeschäftigten vergleichsweise gut bezahlt würden, doch es fehlten die Waren, die deren Konsumbedürfnisse abdeckten. Kein Wunder, dass sich die Inflation "stark beschleunige", wie die Expertin betonte. Sie hofft allerdings, dass die rasante Geldentwertung bis zum kommenden Sommer durch die Zentralbank gebremst wird.

"Menschen gehen in Deckung"

Derweil plagt sich der Kreml mit einer Preisexplosion bei Eiern und Hühnerfleisch, aber auch bei Mineralölprodukten, was vor allem die Rentner und Kleinverdiener trifft, Putins treueste Wählerschaft. Einer "anonymen Umfrage" zufolge erwarten sich denn auch nur 46 Prozent der befragten Russen vom neuen Jahr eine Verbesserung ihrer Lage, 27 Prozent glauben, dass alles bleibt, wie es ist, weitere 27 Prozent richten sich demnach sogar auf eine Verschlimmerung ein.

Der gemäßigt systemnahe Politikwissenschaftler Ilja Graschtschenkow will zum Jahreswechsel denn auch ungewöhnlich wenig Gratulationen erhalten haben, obwohl er zwölf Monate zuvor noch förmlich "überschwemmt" worden sei mit fröhlichen Grußbotschaften. Der Glaube an bessere Tage sei einer Ernüchterung gewichen: "Das Gerede von den 'harten Zeiten' scheint überhandgenommen zu haben, die Feiertage sind keine mehr, sondern eine Zeit der Realitätsflucht. Die Menschen versuchen, sich in Familien- oder Freundeskreisen in 'Deckung zu bringen' und die Feiertage so weit wie möglich abseits irgendwelcher Zumutungen zu verbringen." Die Hoffnungen seien sehr verhalten, der Satz "Aber das ist nicht sicher" sei zum geflügelten Wort mit "suggestiver" Wirkung geworden.

"Müde Gesellschaft zerfällt in Einzelteile"

Die einflussreiche Chefkolumnistin des Telegram-Kanals "Russland kurzgefasst" (500.000 Fans), Ekaterina Winokurowa, schloss sich Graschtschenkows düsterer Zustandsbeschreibung ausdrücklich an: "Eine müde Gesellschaft zerfällt in ihre Einzelteile und sitzt in ihren Wohnungen, nachdem sie gelernt hat, dass die wichtigste Sicherheitsstrategie jetzt darin besteht, 'in Deckung zu gehen'. Die Behörden stehen vor der Aufgabe, für die Präsidentschaftswahl [im März] zu mobilisieren. Es mangelt zwar an organisiertem Widerstand, aber auch an dem Wunsch, für irgendjemanden aktiv seine Unterstützung zum Ausdruck zu bringen – beispielsweise über loyale Antworten auf Fragen von Soziologen hinaus." Zwar dominieren die nationalistischen Rechtsradikalen nach Winokurowas Auffassung die sozialen Medien in Russland, doch "punktemäßig" habe sich bisher die Mehrheitsgesellschaft durchgesetzt, die etwa gegen ein Abtreibungsverbot und eine weitere Mobilisierung sei.

In einer weiteren "Prognose" auf "Russland kurzgefasst" ist kurz und knapp zu lesen: "Es ist sehr klar, was Russland erwartet: Unsicherheit." Dieser Begriff werde die Politik 2024 beherrschen. So sei es offensichtlich, dass Putins Zukunft "zu stark" von äußeren, von ihm nicht zu beeinflussenden Faktoren bestimmt werde: Dem Kriegsverlauf, der US-Wahl, der NATO, Chinas weiterem Vorgehen und dem Ölmarkt. Es sei mit gesellschaftlicher Stagnation zu rechnen, denn realistischerweise blieben Putin nur zwei Möglichkeiten: Alles so zu lassen, wie es jetzt sei, oder die Repression zu verstärken. Möglicherweise fehle ihm das Geld, den Ist-Zustand aufrechtzuerhalten, dann bleibe nur Letzteres.

"Putinismus vermied Reformen sogar in guten Zeiten"

Zusammenfassend schreibt der Kommentator: "Es besteht ein großes Risiko, dass der Kreml im Jahr 2024 mit einer Art Lähmung der Macht und einem Kontrollverlust über das Geschehen rechnet. Ein Ausweg aus der Krise könnte ein freiwilliger Verzicht auf den Wunsch nach Kontrolle und Macht, die Bereitschaft zu Veränderungen und Flexibilität im Denken sein. Das heißt, wir sprächen in diesem Fall über die Transformation des Regimes hin zur Demokratie. Aber der 'Putinismus' vermied Strukturreformen sogar in guten Zeiten. Es wäre also naiv, sie jetzt, im Zeitalter eines hybriden Krieges mit dem Westen, zu erwarten."

Recht unterhaltsam sind die Neujahrsworte des im Exil lebenden Politologen Abbas Galljamow zur gesellschaftlichen Befindlichkeit. Er machte sich über die mäßig erfolgreiche Kampagne des Kremls zur Förderung "traditioneller Werte" lustig: "Die Führung Russlands altert unaufhaltsam. Dieser Faktor untergräbt unter anderem die ideologischen Grundlagen des Regimes. Wenn ein mehr oder weniger junger Mensch von 'traditionellen Werten' spricht, ist das eine Sache. Dann wird die inhaltliche Argumentation wahrgenommen. Aber wenn alte Leute das tun, dann sieht alles einfach nur nach senilem Gejammer aus. Die Führung des Landes ähnelt nun immer mehr den Großmüttern im Fenster, die über die zu kurzen Röcke ihrer jungen Nachbarn schimpfen und sich über den Verfall der Moral beschweren. Wie man sagt, wurde der Teufel im hohen Alter Mönch."

"Kreml legt Zeitbombe unter die Wirtschaft"

Der Krieg werde der russischen Wirtschaft ungeachtet der offiziellen Jubelmeldungen auf Dauer "die ganze Lebenskraft" entziehen, heißt es in einer pessimistischen Analyse bei "Istories", einem im Ausland publizierten russischsprachigen Netzportal. Putin bringe sein Land mit den Kriegsausgaben an die "Grenzen seiner Leistungsfähigkeit". Der Kreml lege förmlich eine "Zeitbombe" unter Wirtschaft und Gesellschaft, denn die Armee und die Rüstungsindustrie hätten die Eigenschaft, wie ein "Krebsgeschwür" unkontrolliert zu wuchern, wenn sie derart massiv angekurbelt würden: "Das Gleichgewicht der Wirtschaft wird vor allem dadurch gestört, dass sie in einen Kriegszustand übergeht. Das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft und seine Rolle in ihr nehmen zu, aber es war die Marktwirtschaft, die zunächst dazu beitrug, Katastrophen zu vermeiden, die vorübergehend zur Stabilisierung und zur Umgehung von Sanktionen beitrug."

"Denken Sie an den Preis"

Bemerkenswert, dass sogar der ansonsten eifrige Kreml-Propagandist und "Politologe" Sergej Markow in einem Interview mit der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" behauptet, die einfachen Leute seien mitnichten so "optimistisch" wie Putin und seine Getreuen. Sie bezweifelten vielmehr die "schönen Zahlen" aus dem Kreml und richteten an den Präsidenten insgeheim die Aufforderung, er solle nicht den "Preis" vergessen, den das Volk für den Krieg bezahle. Die Stimmungslage der breiten Masse beschrieb Markow im Gegensatz zur optimistischen Führung so: "Viele unserer Leute wurden getötet, das ist falsch. Und viele Ukrainer wurden getötet, das ist auch falsch. Weil sie zu unserem Volk gehören, sollten sie in Russland leben. Wir müssen diesen Preis irgendwie senken. Denken Sie an den Preis."

Markow wagte sogar, die Kreml-Propaganda als bloßen "Stimmungsaufheller" zu entlarven, der mit den wahren Ansichten der Verantwortlichen nicht verwechselt werden dürfe. So sei zu bezweifeln, dass der Westen seine Unterstützung für die Ukraine zurückfahre: "Solche Propaganda ist notwendig, um unsere Stimmung zu heben und die Stimmung der Bevölkerung des feindlichen Regimes zu untergraben." Für solche Bemerkungen bekam Markow ausnahmsweise Lob von der "falschen" Seite, nämlich von Putin-Verächtern: "Er liegt sehr nah an der Wahrheit." Jetzt kämpfe die zweite Reihe der Propagandisten schon mit der dritten, hieß es hämisch. Ein Leserkommentator vermutete gar, Markow sei bereits dabei, "seine Schuhe zu wechseln", wie in Russland ein Sprichwort lautet, das dem deutschen "Sein Fähnchen nach dem Wind hängen" entspricht.

"Extreme Temperaturen sind gut"

Russische Militärblogger haben unterdessen rückläufige Abrufzahlen, was nach fast zwei Jahren Krieg und der festgefahrenen Front wenig überrascht. Hier und da klagen sie weiterhin über die angebliche Unfähigkeit der militärischen Führung, allerdings deutlich vorsichtiger als ehedem: "Selbständiges Denken passt oft nicht in bürokratische Standardschemata. Aber ohne einen selbständigen Gedanken kann kein wirkliches Ergebnis erzielt werden – es wird ein inhaltsleeres Nachäffen sein und nichts weiter. Und ein totales Nachäffen führt direkt in die Katastrophe. Deshalb darf man die unabhängigen Gedanken nicht unterdrücken, sondern muss lernen, richtig mit ihnen umzugehen", schreibt einer der wichtigsten Militärblogger mit 450.000 Followern. Sein Rat: Die Russen müssten "nur ein wenig Initiative zeigen", Putin mache es ja vor.

Russland müsse seine "Streitereien" und das Bedürfnis, sich in privaten Komfortzonen gemütlich einzurichten, endlich überwinden, forderte der Kommentator und fügte mit Blick auf die derzeit tiefwinterliche Wetterlage an: "Extreme Temperaturen sind gut, weil sie jedem nachdenklichen Menschen einen Grund geben, eine elementare philosophische und biologische Wahrheit noch einmal vermittelt zu bekommen: In diesem seelenlosen und grenzenlosen Universum kann man nicht alleine überleben."

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