Schwarz-Weiß-Porträt: Héloïse Letissier alias Christine and the Queens
Bildrechte: Paul Kooiker

Héloïse Letissier alias Christine and the Queens

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Paranoïa, Angels, True Love: Neues von Christine and the Queens

In seiner Heimat Frankreich gilt "Christine and the Queens" als Star – und auch in der queeren Szene ist der non-binäre Sänger und Tänzer, der hinter all dem steckt, längst zur Ikone geworden. Jetzt erscheint das vierte Album: eine epische Pop-Oper.

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Musik machen sei wie Beten, sagt Chris, der Sänger. Das hat man bei ihm noch nie so deutlich gemerkt wie diesmal. Dieses neue Album ist eine Messe, eine Predigt im Synthienebel. Etwas, das klingt, als wäre es in einer Kathedrale aufgenommen worden. Groß, einschüchternd, mit massiven Säulen und dunklen Ecken, aber nach oben hin offen, leicht.

Denn auch wenn Chris in seiner "Rockoper", wie er sie nennt, schlimme, existentielle Erfahrungen verarbeitet, Trauer, Tod und Trennung – am Ende strebt doch alles zum Licht. Vor allem der Tod der eigenen Mutter habe dieses Album inspiriert, sagt er, eine schmerzhafte, aber eben auch eine erdende, ja sogar sinnstiftende Erfahrung. Ein uraltes Motiv: durch den Schmerz zu Erlösung und Erkenntnis.

Das Ich und das Wir

Christine and the Queens – das waren immer schon viele, auch wenn nur ein Mensch dahintersteckt: Héloïse Letissier, 1988 in Frankreich geboren. Das Experimentieren mit Bühnenrollen, mit Personas gehört von Anfang an dazu. Ähnlich vielleicht wie bei David Bowie. Nur dass es bei Christine and the Queens dabei nicht bleibt. Auch das meint bei ihm Selbsterkenntnis oder Heilung durch Musik: In der Kunstfigur sich selbst entdecken – und umarmen. Und so stieg Héloïse als Christine auf die Bühne und kam schließlich als Chris wieder herunter. Seit etwa einem Jahr führt er das männliche Pronomen – auch wenn die Queens immer noch in ihm drinstecken, wie er sagt. Das Ich ist ein Wir.

Madonna als Engel

Handlung kennt diese Rockoper nicht. Dafür eine Metapher, die quasi überall ist: Engel. Ständig werden sie besungen, angerufen oder dürfen sogar selbst raunen. Das übrigens in Gestalt von Madonna, die drei Gastauftritte bekommt – als Stimme von ganz ganz oben, was auch sonst. Die Zeichen stehen also auf Neunziger. Auch damals standen Engel popkulturtechnisch hoch im Kurs.

Dazu kommt noch der Look: Diese ballonseidenen Fledermausanzüge, die Chris in den Musikvideos zum Album trägt, die langen Haare streng zurückgekämmt – irgendwie eine Mischung aus James Dean und Antonin Artaud. Und natürlich die Musik, diese Spacesounds – viel Raum, wenig drin, und dazu: ätherischer Slowswing. Auch wenn die Drums manchmal auf Stadionrock machen, die Musik hebt ab, bläht sich wie Ballonseide. Schweben lernen, das kann man mit diesem Album gut.

Schweben mit Pathos

Sogar ein bisschen fränkischen Barock gibt's, den berühmtesten Loop der Musikgeschichte, Pachelbels Kanon. Der wurde schon so oft bei Hochzeiten und Beerdigungen vernudelt, dass man sich den Kitsch nur schwer aus dem Ohr schütteln kann – genauso wenig wie die gefühlt 80 Millionen Coverversionen. Aber kaum eine davon ist so klug wie diese hier, in der sich der Kanon sich wie ein Kissen unter die Orientierungslosigkeit schiebt. "Lonely, fucking, touching, something", tönt es über Pachelbels wiegenden Kadenzen. Auch diese Koordinaten markieren einen Ort, an dem man nicht nur sein, sondern auch schweben darf mit Christine and the Queens.

Dieses Album engelt einem völlig unironisch eine Überdosis Trost und Pathos ins Ohr. Und das ist völlig unironisch: schön.

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