Ernie und Bert aus der Sesamstraße
Bildrechte: picture-alliance/dpa

Ernie und Bert aus der Sesamstraße

Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

"Muppets in Moskau": Wie die Sesamstraße nach Russland kam

Natasha Lance Rogoff versuchte Mitte der Neunziger die Sesamstraße in Russland aufzuziehen. "Muppets in Moskau" erzählt von all den Widerständen, die sie dabei erfahren musste – ein Sachbuch, das sich wie ein Abenteuerroman liest.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Klassische Musik oder nichts, hieß es damals, als eine russische Version der Sesamstraße entwickelt werden sollte. Nicht gerade das, was Natasha Lance Rogoff hören will. "Ich schließe die Augen und atme tief ein", erinnert sich die Fernsehmacherin, die vom Sesame Workshop in den Neunzigern nach Moskau entsendet wird, um dem postsowjetischen Kinderfernsehen das Licht zu bringen: und das in Gestalt bunter, fusseliger Muppets. Ein Ding der Unmöglichkeit.

Die eine Seite ist sendungsbewusst, die andere stolz. Auf keinen Fall will man sich im postsowjetischen Russland von den Gewinnern der Geschichte diktieren lassen, wie gutes Kinderfernsehen auszusehen hat. Der Verdacht von Kulturimperialismus legt sich wie Schimmel über alles, was die amerikanische Produzentin vorschlägt. Nicht russisch genug – diesen Einwand hört Lance Rogoff ständig. Anstelle der Muppets sollen russische Sagengestalten die Sesamstraße bevölkern. Am besten Baba Jaga, eine kinderfressende Hexe. Das Projekt steht kurz vor dem Scheitern.

Vom Sozialismus hin zu Demokratie und Kapitalismus

Das Russland, das sie in den Neunzigern kennengelernt habe, sei ein Land mit einer unheimlich brutalen Vergangenheit gewesen, hat Lance Rogoff in einem Interview erzählt. Ein Land, dessen System gerade gescheitert war. Ein Land, das vor riesigen Veränderungen stand. Vom Sozialismus hin zu Demokratie und Kapitalismus. "Man suchte nach Wegen, die eigene Geschichte hinter sich zu lassen, eine neue Wirklichkeit für die nächste Generation zu erschaffen. Erst im Fernsehen, dann im echten Leben."

Die Sesamstraße als Geburtshelfer der russischen Demokratie – das ist vielleicht ein bisschen zu hoch gegriffen, aber die Macher der Sendung überlegten sich durchaus, was die Kinder lernen sollten, um in der neuen postsowjetischen Welt zu bestehen. Eine Welt der Konkurrenz, eine Welt der Unsicherheit aber auch der Freiheit.

Politiker agieren wie Mafiabosse

Die politische Situation in den frühen Neunzigern ist instabil. Das Russland, das Natasha Lance Rogoff in ihrem Buch beschreibt, gleicht einem failed state. Politiker agieren wie Mafiabosse. Auf den Fernsehchef, der Lance Rogoff zusagt, die Uliza Sesam zu produzieren, wird ein Anschlag verübt. Sein Nachfolger wird ermordet. Irgendwann steht die Miliz im Produktionsbüro, will die Dreharbeiten stoppen. Auch das Fernsehen gehört zum Machtkuchen, von dem nach dem Zerfall der Sowjetunion alle ein Stück abhaben wollen.

Beim Sesame Workshop in New York will man schon zurückziehen, befürchtet, dass die Marke Schaden nimmt. Am Ende geht alles doch irgendwie durch. Und noch erstaunlicher ist: auch inhaltlich finden die russischen und amerikanischen Fernsehmacher zusammen.

Zwar schafft es Baba Jaga nicht in die Sendung, aber doch sowas wie die kindliche Version eines russischen Waldgeists: Seliboba, ein zotteliges, blaues Muppet, das Musik riechen kann und es mit Regeln nicht ganz so genau nimmt. Befreundet ist es mit dem Muppet Businka: pink, wild, weiblich. Die Puppen verkörpern Eigenschaften, die "es der nächsten Generation ermöglichen sollen, im neuen Russland erfolgreich zu sein", schreibt Lance Rogoff dazu. Kinderfernsehen für eine Schwellenzeit. Ein Bein am Boden, eins in der Luft. Tradition und Aufbruch, die Uliza Sesam steht für beides. Und sie ist ein Beispiel für einen interkulturellen Kompromiss. Am interessantesten wird das Buch dort, wo es von genau diesem Ringen erzählt, von der Suche nach dem Gemeinsamen im Eigenen. Sogar auf eine Musik jenseits von Rachmaninow einigt man sich schließlich: Kinderpop, aber mit russischem Melos.

Klassische Heldenreise mit Happy End

Es ist also die klassische Heldenreise mit Happy End, die Natasha Lance Rogoff in ihrer "völlig verrückten Geschichte" präsentiert. Und das so nah an der eigenen Person erzählt, dass man fast vergisst, dass man ein historisches Sachbuch liest. Private Zuckerl gibt’s obendrauf: Während der Arbeit an der Uliza Sesam lernt Lance Rogoff ihren Mann kenn, heiratet, bekommt ein Kind. Ein 400-seitiger, süßer Cocktail aus privatem, beruflichen, politischem Glück.

Zumindest die letzte Zutat hat sich mittlerweile allerdings verflüchtigt. 14 Jahre war die Uliza Sesam auf Sendung. 2010 räumte Putin sie ab. Zu westlich. Seitdem sind die Moskauer Muppets ein Versprechen der Vergangenheit.

"Muppets in Moskau" von Natasha Lance Rogoff ist bei Suhrkamp Nova erschienen. Aus dem Englischen von Frank Sievers. Das Buch hat 413 Seiten und kostet 22 Euro.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!