Ein Soldat der 1. Slawischen Armee hält das Tier im Arm
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Symbolbild: Eine Katze in den Armen eines russischen Soldaten

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"Müde vom Hass": Warum der Tod einer Katze Russland aufwühlt

Eine Schaffnerin hatte in Russland eine Katze aus einem Zug geworfen, woraufhin das Tier an Kälte starb. Der Fall erschüttert die "überhitzte Gesellschaft" mehr als der Präsidentschaftswahlkampf.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Das kommt auch nicht alle Tage vor, dass die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS alle paar Stunden über eine tote Katze berichtet. Doch der Fall beschäftigt Politik und Gesellschaft gleichermaßen - und wenn Hunderttausende von Russen eine Online-Petition unterzeichnen und emotional aufgewühlt sind, ist das in einem derart autoritären Regime natürlich ein Politikum. "Weltweit herrscht ein Gefühl der Ohnmacht – was bedeutet, dass wir uns ersatzweise auf die Suche nach einer Katze machen", so Star-Kolumnistin Ekaterina Winokurowa: "Wir sehnen uns nach einem Happy End für mindestens eine Geschichte, die uns belastet, wir wollen zumindest etwas Licht am Ende des dunklen Tunnels sehen. Leider hatte diese Geschichte kein Happy End. Deshalb trauert ganz Russland um diese Katze. Weil es erlaubt ist, um eine Katze zu trauern. Denn eine Katze ist der Inbegriff von Wehrlosigkeit und Aggressionslosigkeit."

"Einzig erlaubte Protestform"

Der Fall sei wie ein Ventil für den angestauten öffentlichen Frust, meint die Bloggerin: "Wenn Sie schreiben, dass Sie die Forderungen nach noch mehr Unterdrückung satt haben, dass Sie die Meldungen über nicht enden wollende Todesfälle, über Gewalt, über Trauer nicht mehr ertragen können, werden Sie sofort beschimpft und gemaßregelt, weil Sie Mitgefühl und Unterstützung für die andere Seite ausdrücken. Wer sich gegen Repression ausspricht, riskiert selbst, von der Dampfwalze erfasst zu werden. Über die Politik sollte man völlig schweigen." Die Wut über die tote Katze sei dagegen die "einzig erlaubte Form" des öffentlichen Protests.

Laut TASS hatte eine Schaffnerin am 11. Januar eine vermeintlich durch den Schnellzug von Jekaterinburg nach St. Petersburg "streunende" Katze unterwegs auf dem Bahnsteig der Station Kirow ausgesetzt. Wie sich später herausstellte, hatte sich das Tier namens Twix, für das der Besitzer eine ordnungsgemäße Fahrkarte gelöst hatte, aus der Transportbox befreien können. 7.000 Menschen sollen sich an der Suche nach der Katze beteiligt haben, doch Twix wurde schließlich erfroren aufgefunden, was der Besitzer mittlerweile bestätigte. Er will Polizei und Staatsanwaltschaft einschalten. Derweil fordern rund 305.000 Russen in einer Online-Petition auf change.org den Rauswurf der Schaffnerin, wogegen wiederum die Eisenbahn-Gewerkschaft Stellung nahm. Sie warnte vor "voreiligen Personalentscheidungen". Das Presseecho ist enorm, der eine oder andere forderte schon ein "Mahnmal" am Bahnsteig, an dem die Katze ihrem Schicksal überlassen wurde, mehrere führende Politologen fühlten sich daher zu Analysen angespornt.

Politologe: "Überhitzte Gesellschaft"

Anatoli Nesmijan verwies darauf, dass rund zwei Drittel aller Russen Haustiere besäßen und entsprechend verärgert seien: "Im Allgemeinen ist die Gesellschaft offensichtlich müde von der Wut und dem Hass, den die Behörden anstacheln. Es besteht ein klarer Bedarf an Menschlichkeit und Mitgefühl. Aber das passt überhaupt nicht in die aktuelle Ideologie des Regimes, das eine belagerte Festung errichtet und unmittelbar daran interessiert ist, dass jeder Mensch nur noch Angst vor dem Regime hat und Hass auf diejenigen empfindet, die es bekämpfen. Für Güte und Menschlichkeit sollte hier kein Platz sein." Der Kreml habe die "soziale Temperatur" soweit erhöht, dass die Gesellschaft in einen "überhitzten Zustand" geraten sei, "in dem alle zwischenmenschlichen Verbindungen zerstört" worden seien und sich sogar grundlegendste Einheiten wie die Familie "auflösten".

"Ein Unterdrückungsstaat kann nur dann relativ stabil existieren, wenn alle sozialen Strukturen erschüttert und bis auf die Grundmauern zerstört werden, so dass der Staat zur einzigen Struktur, zur allein regierenden Instanz für die Menschen wird. Damit wird die Gefahr der Selbstorganisation dieser Menschen beseitigt", so Nesmijan düster. Druck erzeuge jedoch Gegendruck. Viele Russen ignorierten die Behörden und konzentrierten sich auf "passive Formen des Widerstands", etwa, in dem sie gegen das Verhalten der Schaffnerin protestierten.

"Zeigt sehr gut, was den Menschen fehlt"

Der kremlnahe Polit-Blogger Sergej Markow machte sich darüber lustig, dass fünf Mal mehr Russen die erwähnte Petition unterschrieben hätten als für den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten und Kriegsgegner Boris Nadeschdin: "Arme Twix! Armer Nadeschdin!" Ernsthafter sagte der Wirtschaftspolitiker Andrej Tenischew: "Was ist das für ein Phänomen? In der Gesellschaft herrscht ein völliger Mangel an Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Die Menschen glauben nicht, dass Politiker ihnen beides vermitteln können, aber diese Katze, die spendet Freundlichkeit und Trost und Wärme. Katzen sind im Internet zu einem Sinnbild für das Gute geworden. Deshalb ist die Reaktion erklärbar, ein Symbol des Guten wurde ungerecht behandelt." Der Abgeordnete Michail Matwejew wollte gar eine parlamentarische Anfrage wegen Tierquälerei auf den Weg bringen, andere Politiker argwöhnten, der "moralische Ruf der russischen Eisenbahn" solle angegriffen werden.

"Wunsch, sich an Behörden zu rächen"

"Diese Episode bietet Einblick in einen wichtigen Querschnitt durch die russische Gesellschaft", meinte ein Polit-Blogger mit 70.000 Fans: "Hier zeigen sich der massive Wunsch, sich an den Behörden zu rächen, und der unvermittelte Ausbruch von Wärme und Mitgefühl, wonach die Menschen vor dem Hintergrund eines endlosen Stroms negativer Nachrichten von den Fronten und den damit verbundenen Falschdarstellungen eindeutig hungern. Die Katze Twix zeigte, was für die Menschen wirklich wertvoll ist: die Rückkehr zur Normalität, zu einfachen menschlichen Werten. Schließlich erschütterte diese Leiche das russische Volk mehr als die Fotos und Videos von Zehntausenden toter Soldaten, die ihnen offenbar egal sind." Für Putin sei die Sache förmlich "ein Geschenk", werde er doch sicher irgendwie zu seinem PR-Vorteil eingreifen.

Politologe Maxim Scharow schreibt: "Einer der Gründe für die nach Neujahr zunehmende Angst und Unzufriedenheit mit den Behörden, wie sie die Soziologen gemessen haben, ist die übermäßige 'Nüchternheit' des Wahlkampfs 2024 und das völlige Fehlen jeglicher Empathie der Kandidaten gegenüber den Menschen. Der derzeitige emotionale Ausbruch in den sozialen Netzwerken über den Tod der Katze Twix zeigt sehr gut, was genau den Menschen fehlt. Es mangelt ihnen an der Einbeziehung und dem Verständnis der Behörden für ihre Probleme und Schwierigkeiten. Das ist also ein Grund für die Macher des Wahlkampfs 2024 (anscheinend haben sie darüber kein Einverständnis erzielt), darüber nachzudenken, ob sie alles richtig machen, wenn sie diesen Wahlkampf und die Zustimmungswerte zu den Oppositionskandidaten bis in den Bereich des statistischen Fehlers runterdrücken."

"Wunsch zu bestrafen stark entwickelt"

Der kremlkritische russisch-orthodoxe Geistliche Sergej Tschapnin wunderte sich, dass ein Appell zur Wiedereinstellung eines geschassten Priesters und Kriegsgegners nur rund 12.000 Unterschriften bekam, während die Katze ausweislich der Online-Petition Hunderttausende erschüttert habe: "Bei beiden Petitionen geht es letztlich um Menschen und nicht um abstrakte Ideen oder Tiere. Diese Appelle widersprechen sich allerdings untereinander: Im ersten geht es um Unterstützung, im zweiten um Bestrafung [der Schaffnerin]. Man kann es etwas anders formulieren: Tierquälerei ruft relativ weit verbreitete Sympathien hervor, der ruppige Umgang mit Menschen, zum Beispiel mit Priestern, jedoch nicht. Der Wunsch zu bestrafen ist viel stärker als der Wunsch zu unterstützen."

"Putin wird Punkte sammeln"

In den Leserforen russischer Zeitungen tobt eine wilde Debatte zwischen Putin-treuen Ultrapatrioten, die sich über den Fall amüsieren, und einer großen Mehrheit besorgter Bürger: "Der Entwicklungsstand einer Gesellschaft wird durch ihre Einstellung gegenüber Kindern, alten Menschen und Tieren bestimmt." Die Behörden würden "jeden, der ihnen nicht gefällt" aus dem Zug werfen, schimpfte jemand entrüstet. "Wenn das menschliche Leben nicht mehr wertgeschätzt wird, müssen wir beginnen, das Leben derer wertzuschätzen, die überhaupt nicht für sich selbst einstehen können", kommentierte ein weiterer Leser vieldeutig. Mit Blick auf Putin hieß es: "Gemessen an der Aufregung um die Situation und der fast eindeutigen Unterstützung der Bevölkerung für die Idee, die Schaffnerin zu entlassen und sogar ein Strafverfahren einzuleiten, wird er in den Augen der Menschen viele Punkte sammeln, wenn er dazu beiträgt."

Mutige behaupteten, es sei ja nur folgerichtig, wenn jetzt die Katzen freigelassen würden, während die Menschen eingesperrt seien. "Entlassen Sie die Schaffnerin wegen Inkompetenz!! Sie arbeitet mit Menschen! Wo ist die grundlegende Menschlichkeit? Wo ist die Achtsamkeit? Wo liegt die berufliche Verantwortung? Sie ist böse, unmenschlich und wird Passagiere aus Wut womöglich sogar vergiften! Es ist beängstigend, mit solchen Leuten zu reisen!" polterte jemand ungehalten und bestätigte damit indirekt die Bestandsaufnahme der oben erwähnten Politologen, wonach die Wut über fehlendes Mitgefühl enorm ist. "Wir brauchen kein Denkmal für die Katze, sondern ein Denkmal für die menschliche Gleichgültigkeit. Die Katze ist ein Symbol dafür", schrieb denn auch ein Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka".

"Katze sprengte die Gesellschaft in die Luft"

"Wie krank und eingeschüchtert unser Land ist. Wir haben Angst, über den Tod von Menschen an der Front zu sprechen, weil es so ist, als würde man sich verplappern. Hier hat der Tod der Katze die Gesellschaft in die Luft gesprengt", postete ein weiterer Leser: "Sogar die Duma war aufgeregt – wow... Denn hier kann man verurteilen und debattieren, ohne befürchten zu müssen, strafrechtlich verfolgt zu werden. Ich liebe Katzen." Ähnlich ironisch schrieb ein Diskussionsteilnehmer: "Was kann man in einem Land, in dem Tiere auf diese Weise behandelt werden, sonst noch von der Behandlung der Menschen erwarten?"

Die Anzahl der Meinungsäußerungen zum Schicksal von Twix zeige, was die Russen wirklich bewege, meinte jemand, der darauf hinwies, dass propagandistische Artikel kaum kommentiert und somit wohl weitgehend ignoriert würden. Es gab jedoch auch Leser, die die Gelegenheit zum Selbstlob nutzten: "Die Russen sind die reaktionsschnellsten und freundlichsten unter den Menschen. In anderen Ländern wäre die Geschichte der armen Katze allen gleichgültig. Das Wichtigste, was sie dort haben, sind Geld, Macht und Ausschweifungen."

"Niveau einer Nationalidee"

Nicht wenige sprachen angesichts des Entrüstungssturms bereits von einer gesamtrussischen "Psychose" oder "Tier-Schizophrenie". "Wir müssen über die Grausamkeit schreiben, an der Menschen zugrunde gehen. Sie ist allgegenwärtig. Und je mehr Brutalität gegenüber den Menschen herrscht, desto mehr werden sie zu Tieren. Davon hängt auch das Leben aller Katzen ab", behauptete ein weiterer Kommentator. Und geradezu sarkastisch hieß es in einem Post: "Es scheint, dass die Medien mit etwas gefüllt werden muss, sonst wird jemand bemerken, dass im Land Wahlen vor der Tür stehen und alle Kandidaten, einschließlich des 'Hauptkandidaten', außer Nadeschdin, es nicht gerade eilig haben, zumindest ein rudimentäres Programm vorzulegen. Obwohl, die missglückte Rettung der Katze Twix hat fast das Niveau einer nationalen Idee erreicht. Aber es hat leider nicht geklappt."

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