Der russische Präsident sitzt auf einem Sessel mit vergoldetem Holzrahmen
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Wladimir Putin bei einer Besprechung am 18. Januar 2023

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"Wir sind Touristen": Muss Putin Unruhen in Regionen fürchten?

Proteste in der Provinz Baschkortostan haben sich auf die dortige Hauptstadt Ufa ausgeweitet. Experten glauben, dass sie sich nicht nur gegen Putin persönlich richten, sondern die "Großmachtpolitik" des Kremls: "Russland sitzt auf einer Bombe."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Wir sind Touristen, wir sind gekommen, um uns das Denkmal von Salawat Julajew anzusehen", sollen Demonstranten in der baschkirischen Provinzhauptstadt Ufa im Ural zu den Sicherheitskräften gesagt haben, was natürlich ironisch gemeint war. Der Heerführer Julajew (1752 - 1800), der auch für seine Gedichte berühmt wurde, gilt als Nationalheld und Märtyrer Baschkortostans. Er wurde nach einer Rebellion einst auf Befehl von Zarin Katharina der Großen gefoltert und gefangen gesetzt und verstarb in einer Festung. In Ufa ist ihm eine Reiterstatue gewidmet, die nach Angaben von Augenzeugen von Bereitschaftspolizisten abgeriegelt worden sein soll. Hunderte von Menschen sollen sich im Zentrum versammelt haben, um an der Erinnerungsstätte "Blumen niederzulegen".

Kreml: "Es gibt keine Massenaufstände"

Es kam zu zahlreichen Festnahmen. Demonstranten versuchten, die Abfahrt eines Polizeibusses zu verhindern. Unfreiwillig komisch war die unmittelbare Reaktion von Kremlsprecher Dmitri Peskow, der laut staatlicher Nachrichtenagentur TASS sagte: "Mit der Formulierung ‚Massenaufstände und Massenproteste‘ bin ich nicht einverstanden. Es gibt keine Massenaufstände und Massenproteste, sondern einzelne Kundgebungen." Damit musste sich Peskow aber die Nachfrage gefallen lassen, warum Teilnehmer dann nach Paragraf 212 des russischen Strafgesetzbuchs wegen Teilnahme an "Massenunruhen" festgenommen worden seien: "Ich habe keinen juristischen Begriff verwendet, sondern die Anzahl der teilnehmenden Personen umschreiben wollen. Unjuristisch formuliert bin ich der Meinung, dass es sich dabei nicht um 'Massenaktionen' handelte."

Damit weiteten sich die Proteste aus, die in der abgelegenen Kleinstadt Baimak rund 500 Kilometer südlich von Ufa begonnen hatten. Auch dort hatten Ordnungskräfte eingegriffen und Tränengas eingesetzt. Auf Videos in den sozialen Medien war zu sehen, wie Protestierer Fahrzeuge und Polizisten mit Steinen bewarfen. Unmittelbarer Anlass war ein Strafprozess gegen den Nationalisten und Umweltaktivisten Fail Alsinow gewesen, der wegen "Aufstachelung zum ethnischen Hass" zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden war, doch auch der in Ufa lebende baschkirische Volkskünstler Altinai Walitow hatte zum Widerstand aufgerufen.

"Protest gegen imperiale Politik"

"Wer gern hybride Kriege entfesselt, muss damit rechnen, dass in seinem Rücken hybride Proteste entstehen", schreibt der in London lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow (146.000 Fans) in seiner Analyse der Ereignisse. "Der Gewaltausbruch in Baschkortostan ist von besonderer Art. Das ist kein Anti-Kriegs-, kein demokratischer oder Anti-Korruptions-Protest im engeren Sinn, obwohl er ein wenig von all dem enthält. Aber es steckt noch viel mehr dahinter – in religiöser und nationalistischer Hinsicht. Dabei handelt es sich größtenteils nicht um einen Protest gegen Putin, sondern gegen die imperiale Politik, unabhängig davon, wer sie im Kreml dirigiert. Das ist ein Protest gegen das vom Kreml aufgezwungene neue (alte) Großmachtstreben." Letztlich sei diese Art Widerstand für den Kreml "viel gefährlicher" als Demonstrationen von Demokraten.

"Rückfälle sind jederzeit möglich"

Einer der Gründe für die Verschärfung sei das unglückliche Handeln von Gouverneur Radij Kabirow, der von den Baschkiren als "Moskauer Eroberer" ohne Verständnis für die lokalen Eliten wahrgenommen werde. Es sei bezeichnend, dass es in Baschkortostan neulich "fast völlige Gleichgültigkeit" gegenüber der politischen Verfolgung einer Antikorruptions- und Antikriegsaktivistin gegeben habe, während das Schicksal von Nationalisten tausende mobilisiere: "Der Krieg und die damit verbundene Politik des Großmachtchauvinismus weckten die mächtigen, schlummernden Kräfte der Völker Russlands. Sie richten ihre Protestenergie gegen das Regime. Diese Energie verschmilzt mit dem Potential allgemeiner demokratischer und Antikriegsproteste und wird durch sozialen Unmut verschärft."

Das Problem sei, dass sich die "Energie des Protests" nicht nur gegen das Regime richte und deshalb mit dessen Sturz auch nicht verschwinde: "Ein hybrider Protest wird ein hybrides Ergebnis haben. Daher gibt es im Moment nicht viel Grund zur Freude. Russland sitzt auf einer Bombe, die Putin platziert hat und die nach seinem Abgang explodieren wird."

Die Vorfälle im Ural seien zwar ein "Sonderfall", heißt es in einer innerrussischen Analyse in einem der größten Telegram-Kanäle mit 310.000 Abonnenten, gleichwohl seien sie für die Gouverneure Anlass, ihre Beziehungen zu den Sicherheitskräften zu "stärken": "Rückfälle sind jederzeit möglich. Die Gefahr von Protesten dieser Art liegt unter anderem darin begründet, dass sie den Dissidenten und den sogenannten politischen Emigranten die Möglichkeit geben, Druck auf die Frontsoldaten auszuüben, auch auf die Mobilisierten. Dementsprechend wirkt das harte und schnelle Vorgehen der Sicherheitskräfte in diesem Fall unausweichlich."

"Konzerne hinterließen verbrannte Erde"

Genau das allerdings berge erhebliche Risiken: "Eine übermäßige Machtdemonstration führt langfristig zu einer Aushöhlung des internen politischen Instrumentariums, was wiederum die Nebenwirkung hat, dass das Ansehen der Behörden weiter abnimmt. Dennoch stärken und koordinieren die Regionalverwaltungen und Sicherheitskräfte ihre Möglichkeiten weiter, damit sie künftig gemeinsam auf nicht genehmigte Proteste reagieren können."

Polit-Blogger Anatoli Nesmijan sieht für Putins Herrschaftsapparat eher mittelfristig Risiken: "Die Proteste selbst stellen keine besondere Bedrohung für die Behörden dar – sie sind nicht organisiert und zahlenmäßig gering. Aber allein die Tatsache, dass die Unterdrückungsmaßnahmen nicht nachlassen und trotzdem nicht die gewünschte Wirkung entfalten, ist durchaus bezeichnend. Und wie immer wirkt staatlicher Terror in den am stärksten benachteiligten Randregionen am schlimmsten. Obwohl Baschkirien eigentlich im Zentrum des Landes liegt, ist es eine typische Gegend am Rande, der die Hauptstadt ihre Ressourcen entzieht. Tatsächlich war der Grund für die Unruhen die Raubtierpolitik großer Konzernstrukturen, die die Landschaft im wahrsten Sinne des Wortes aussaugten und verbrannte Erde hinterließen."

"Angeblicher Dialog wird zum Monolog"

Ähnlich alarmiert gibt sich ein weiterer wichtiger russischer Blog: "Es stellt sich die Frage, ob der Chef von Baschkirien, Radij Kabirow, die Lage in der Region noch kontrolliert." Er habe eine Reihe von Fehlern begangen, die vor allem mit der Armut in der Gegend zusammenhingen: "Soziale Unzufriedenheit ist auch auf den sinkenden Lebensstandard zurückzuführen. Kabirows angeblicher Dialog wird durch einen Monolog ersetzt; Darüber hinaus wird die örtliche Führung mit der inoffiziellen 'Russifizierung der Republik' in Verbindung gebracht, was es nationalistischen Aktivisten ermöglicht, das auszunutzen." Inzwischen gebe es in Baschkortostan eine Spaltung der Eliten vor Ort, was die Lage noch verschärfen werde. Allein mit Repression sei das Problem nicht mehr lösbar.

"Wir müssen aktiver darüber sprechen"

Gouverneur Kabirow hatte auf seinem Telegram-Kanal (29.000 Fans) von "Verrätern, von denen sich einige im Ausland befinden" gesprochen, die die Loslösung seiner Region von Russland betrieben. Er werde "Extremismus" unter der "Maske des Umweltschutzes" nicht tolerieren. Allerdings zeigte sich Kabirow auch selbstkritisch und verwies darauf, dass er sich persönlich "sorge", seine Landsleute "nicht vollständig" über die wahren Pläne der Nationalisten aufgeklärt zu haben: "Ich betone, dass wir aktiver darüber sprechen müssen, wie wir leben und was für Menschen wir sind. Daher werden wir diese Arbeit fortsetzen. Und so entwickelt sich Baschkortostan, wir werden vorankommen."

Der im Ausland lebende Politologe Abbas Galljamow, der früher selbst in der Region politisch tätig war und mit den Details gut vertraut ist, verwies darauf, dass Gouverneur Kabirow eine aus Armenien stammende Frau habe. Gegen die Armenier richte sich jedoch der weit verbreitete Unmut der Baschkiren. Sie fühlten sich von der eingewanderten Volksgruppe "dominiert", zumal Kabirow einige angeheiratete armenische Verwandte aus dem Staatshaushalt sehr gut versorgt habe: "Kabirow war über all dieses Gerede sicherlich wütend." Nicht eine angebliche Agententätigkeit der amerikanischen CIA schaffe jedenfalls das "Potential für den Zusammenbruch", wie es russische Propagandisten behaupteten, sondern die eigenen "Patrioten des Kremls".

"Behörden tun alles für einen Hurrikan"

Politologe Wadim Schumilin argumentierte, nur "sehr wenige Menschen" wollten Baschkortostan von Russland abspalten, aber sehr viele drängten darauf, die baschkirische Kultur zu stärken. Zwar sei die Region rundherum von Russland umgeben und es gebe dort "mehr Russen als Baschkiren": "Aber auch in Kasachstan gab es mehr Russen als Kasachen. Das hinderte sie nicht daran, sich abzuspalten." Die Russen hätten halt kein "Kameradschaftsgefühl, keine Leidenschaft, kein Selbstbewusstsein, keine funktionierende Elite". Schumilin gab sich sehr besorgt: "Sobald es nach unruhigen Zeiten zu riechen beginnt, der Einfluss des Kremls schwächer wird, der Wind des Wandels weht, wird der baschkirische Nationalismus mit neuer Kraft aufflammen, wie Dutzende andere Unabhängigkeitsbestrebungen in ganz Russland. Je stärker dieser Wind weht, desto heller wird die Flamme auflodern. Und die Behörden machen heute alles, damit es morgen oder übermorgen zu einem Hurrikan kommt."

Es komme jetzt darauf an, ob die Russen die Krise so lethargisch über sich ergehen ließen wie beim Zusammenbruch der Sowjetunion, oder ob sie zu "Kompromissen" fähig seien: "Welche der beiden Optionen realistischer ist - urteilen Sie selbst."

"Stark an Gewicht verloren"

Dabei ist der Aufruhr in Baschkortostan für Putin bei weitem nicht das einzige Ärgernis: Das russische Finanzministerium hatte gerade erst mitgeteilt, dass fast die Hälfte aller flüssigen Mittel aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds, der "eisernen Reserve", dafür verwendet werden musste, das Haushaltsloch 2023 zu stopfen. Daraufhin fragten sich viele Blogger, wie lange sich Russland den Krieg überhaupt noch leisten könne. Ein abermaliges "Wettrüsten" mit dem Westen wie im Kalten Krieg werde es angesichts seiner wirtschaftlichen Schwäche zwangsläufig verlieren: "Das bedeutet, dass Moskau weiterhin auf eine politische Lösung der Krise mit Zugeständnissen der Ukraine und einigen Gegenangeboten der Russischen Föderation an die EU und die Vereinigten Staaten rechnet. Wenn diese Option nicht funktioniert, wird derjenige Sieger sein, der im Wettrüsten den anderen überholt und später erschöpft ist."

Der oben erwähnte Anatoli Nesmijan behauptete, Putin stecke in einer fatalen "Sackgasse". Er könne nämlich die stark gestiegenen Rüstungsausgaben gar nicht mehr zurückfahren, ohne den Zusammenbruch der Wirtschaft und damit des Landes zu riskieren. Nur die massive Expansion der Rüstungsbranche ließen Konjunktur und Arbeitslosenzahlen optisch gut aussehen, doch die Mittel dafür seien begrenzt. Und damit nicht genug: Dem russischen Außenministerium wurde aus den Reihen der "besorgten" Patrioten "brutale Mittelmäßigkeit" vorgeworfen, weil es nichts gegen die Isolation unternehme: "Die Abteilung für Außenpolitik hat stark an Gewicht verloren und wird heute größtenteils nur noch mit den teilweise recht blamablen Äußerungen der offiziellen Sprecherin Maria Sacharowa in Verbindung gebracht."

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