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Tonaufnahme draußen: "Atlas der ungewöhnlichen Klänge"

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Kartografie für Ohren: Der "Atlas der ungewöhnlichen Klänge"

Wie klingt das tiefste Bohrloch der Erde, wie die Wiese im mongolischen Altai-Gebirge, wie das Moor? Unser Autor hat sich mit Michaela Vieser und Isaac Yuen in abseitige Klangräume gewagt. Beide verfassten den "Atlas der ungewöhnlichen Klänge".

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Es klingt wie das Tor zur Hölle, das Kola-Bohrloch: 15 Kilometer unter der Erde befindet es sich, lange war es das tiefste Bohrloch der Welt, ganz im Norden des baltischen Schildes. Gebohrt wurde es ursprünglich, um über die abgründigen Bodenschichten mehr über die Erdgeschichte zu erfahren. Doch irgendwann seien dann die Gelder abgezogen worden, erzählt die Künstlerin Michaela Vieser. Die Wissenschaftler seien aber immer noch an dem Ort gewesen und hatten nichts zu tun. "Dann haben die angefangen, dem Bohrloch zuzuhören. Und dann gab es ja diese Geschichte, dass man diese Klänge aus dem Bohrloch gemischt hat mit Klängen aus der New Yorker U-Bahn und hat gesagt: 'Das sind die Klänge des Teufels, die da jetzt rauskommen', was total verrückt ist."

Der beste Ort für Echos

Michaela Vieser interessiert sich für außergewöhnliche Klänge und die Geschichten dahinter. Ich treffe sie zusammen mit ihrem Künstlerfreund Isaac Yuen an einem Waldsee, tief in Brandenburg, dem Tornowsee. Dicht umsäumt von Buchen und Kiefern ist der für seinen Klang berühmt. Vieser und Yuen führen mich zu einem kleinen Uferfels: "Das ist der Echostein. Ein ganz kleiner versteckter Stein, den man ohne das Schild gar nicht finden würde. Im Winter zumindest ist es der beste Ort, den ich kenne, für Echos".

Vieser zückt ihr kleines Aufnahmegerät. Yuen legt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und brüllt: "Ok. Now you do it! Hello". "Okay, jetzt bist Du dran, Hallo!" Die Zeitdifferenz ist das, was Yuen am Echo fasziniert: "Man spricht und es gibt diese Verzögerung. Einem Echo zu lauschen, ist eine Lektion in Aufmerksamkeit."

Sammler abseitiger Klangräume

Michaela Vieser und Isaac Yuen sind Kartografen für die Ohren. Sie suchen und sammeln abseitige Klangräume. Was erzählt das Moor hier, wenn man zuhört? Die beiden sitzen auf einem morschen Stamm, der ins Wasser gebrochen ist und lauschen den Myriaden unsichtbarer Wesen, die hier jagen, balzen, sterben. "Klang ist ja etwas, was in dich reingeht. Selbst wenn du die Ohren zuhältst, geht er in dich rein. Augen machst du zu und dann siehst du nichts mehr. Aber Klang geht durch dich durch und wenn du halt in einem gewissen Feld aus Klang stehst, dann bist du Teil des Ganzen", sagt Vieser.

Zusammen mit Isaac Yuen hat sie einen "Atlas der ungewöhnlichen Klänge" verfasst. Darin erfährt man viele kuriose Soundgeschichten. Und über einen QR-Code im Buch lässt sich eine digitale Klangkarte öffnen und so nachhören, wie die entlegensten Orte der Welt klingen. Etwa das mongolische Altai-Gebirge: In dessen unberührten, blumenübersäten Bergfeldern schwirren so viele Insekten, dass sie die Einheimischen nur "die summenden Wiesen" nennen.

"Der Welt zuhören"

Sie wollten auch ein bisschen wegführen von dieser extrem visuell stimulierten Welt, sagt Vieser. Neunzig Prozent von unserer Wahrnehmung werde durch das Sehen geprägt. "Und indem wir einfach mal zuhören und der Welt zuhören, öffnet sich quasi so ein Spalt und eine ganz neue Welt".

Viele dieser Klänge sind Produkte des Zufalls: etwa das Pfeifen der Golden Gate Bridge in San Francisco. Ihre Stahlseile zittern im Wind. Die Brücke über der Bay Area singt als unfreiwillige Äolsharfe. Ganz anders die Gagaku-Musik in Japan. Eine akustische Meditation über das Nichts, ursprünglich ausschließlich für den Kaiser gespielt und von den Musikern nie auf Noten festgehalten. Inzwischen immaterielles Weltkulturerbe. Wie lange wird sie noch gespielt werden? Klang ist ephemer und oft erinnern wir ihn falsch.

So hört sich die Explosion einer Atombombe an

Eine unserer Geschichten handelt von der Atombomben-Explosion. Die klingt nämlich ganz anders als im Film. Im Film hört man einen Soundeffekt, der eine Mischung aus einer Gebäudesprengung und einem Wasserfall ist. So stellen sich die Menschen heute den Klang der explodierenden Atombombe vor. Tatsächlich gibt es aber eine ganz seltene Tonaufnahme. Und da klingt die Explosion eher unspektakulär, eher wie ein Schuss. Also komplett anders als erwartet.

Im "Atlas der ungewöhnlichen Klänge" wird man immer wieder überrascht. Wer setzt Klang als Waffe ein? Wie klingt der Flirt eines Pinguins? Wie die Höhlen der alten Schamanen. Das Außergewöhnliche ist dabei oft gar nicht so weit weg. Dreht man etwa die Frequenz eines alten AM Radio auf das Rauschen zwischen zwei Sendern, hört man den Urknall.

Michaela Vieser, Isaac Yuen:"Atlas der ungewöhnlichen Klänge. Eine Reise zu den akustischen Wundern unserer Erde" ist im Knesebeck Verlag erschienen.

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