Albert Einstein streckt seine Zunge heraus
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Berühmte Zunge: Albert Einstein.

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Buch über die Zunge: Menschlich und animalisch zugleich

Florian Werners Buch "Die Zunge" zeigt, wie sie im Laufe der Geschichte von einem verpönten Körperteil zu einem Symbol für Anarchie und Protest wurde.

Über dieses Thema berichtet: Diwan - Das Büchermagazin am .

Sprechen, schmecken, küssen: die Zunge ist das Zentrum unserer Beziehung zur Außenwelt. All die Dinge, die wir mit ihr tun, verbinden unser Inneres mit dem Äußeren. Die Zunge ist das Zentralorgan des menschlichen Miteinanders, schreibt Florian Werner. Und sie führt trotzdem ein seltsames Schattendasein, sagt er: "Das Merkwürdige an der Zunge ist ja, dass wir alle, sämtliche Säugetiere, fast alle Wirbeltiere, eine im Mund haben und sie ununterbrochen benutzen und bewegen, egal ob wir etwas saugen, schlucken oder sprechen. Auch wenn wir sie gar nicht brauchen, treibt sie sich ja in der Mundhöhle herum und pult an irgendwelchen losen Plomben oder spitzen Zähnen. Sie ist eigentlich immer da, aber immer knapp unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Krötenhaut und Schmirgelpapier

Die meisten Menschen finden Zungen zunächst mal eklig: weich, feucht, schleimig. Die Zunge ist die Nacktschnecke unter den menschlichen Extremitäten, denn zu denen gehört sie genauso wie zu den inneren Organen: ein Zipfel unseres Körpers, der immer mal wieder aus der feuchten Grotte unserer Mundhöhle herauslugt. Aber wie das so ist mit dem Ekligen, Fremden: Je genauer man es betrachtet, desto weniger fremd erscheint es.

Und so dauert es nicht lang und man steht selbst vor dem Spiegel und schaut sie sich mal an, diese eigene fremde Zunge. Besonders Unerschrockene greifen sich vielleicht sogar in den Mund hinein und tasten sie ab: das Zungenbändchen neben den Speicheldrüsen, die Furche in der Mitte, den Rücken mit seinen warzenförmigen Ausstülpungen, die ihr das charakteristische Aussehen verleihen "zwischen Krötenhaut und nass gewordenem Schmirgelpapier", wie Florian Werner mit überbordender Freude an der "lingua" schreibt.

Von Einstein bis zu den Rolling Stones

Florian Werners Porträt der Zunge ist aber mehr als ein Anatomie-Buch mit Sex-Appeal. Dem Autor gelingt der Spagat zwischen Cocktailparty-Wissen über Giraffen- und Chamäleonzungen und ernsthafter Gegenwartsanalyse. Denn der Umgang mit der Zunge erzählt etwas über unsere Zeit und Gesellschaft.

Zunge zeigen galt jahrhundertelang als verpönt. Als Mitgefangene der Kehle fiel sie wie diese in die Kategorie Höllenschlund und Unterwelt. Die wenigen Zungen der Geschichte der Kunst gehören Monstern oder Narren. Die Wende kam in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Albert Einstein streckte einem nervigen Fotografen die Zunge heraus.

Das Bild wurde zur Ikone – und kann als Dammbruch für die neue Sichtbarkeit der Zunge gelten, meint Werner: "Merkwürdigerweise ist Albert Einstein damit durchgekommen, ich glaube, den meisten Menschen würde solch ein Foto schaden, wenn das ein Student gemacht hätte, hätte es rigorose Strafmaßnahmen gegeben, aber er durfte das irgendwie als Nobelpreisträger und genialisch verwuschelter Sympathieträger. Aus der Kunstgeschichte sind solche Beispiele gar nicht bekannt, es gibt kein Porträt eines Fürsten, Königs oder Herrschers, auf dem die Zunge zu sehen ist. Das ist wirklich ein Signum der Moderne, dass man überhaupt die Zunge herausstrecken darf."

Tierischer Ursprung des Kusses

Mit dem Logo der Rolling Stones – rote Lippen mit lasziv heraushängender ebenso roter Zunge – war die Zunge gesetzt: als Symbol für Anarchie und Protest. Auch in anderen Zusammenhängen wurde Zunge zeigen immer normaler, dafür spricht schon der hohe Speiseeisverbrauch westlicher Industrieländer: Noch nie wurde so viel geleckt wie heute.

Das Paradox aber bleibt: Noch immer gilt die Zunge als menschlich und animalisch zugleich. Zungenküsse etwa sind ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Dabei sind sie tierischen Ursprungs: Analog zu den Vögeln haben wohl auch menschliche Muttertiere ihren Kindern ehemals die Nahrung vorgekaut.

Zwischen Ekel, Sprache und Lust

Es ist die besondere Beweglichkeit der menschlichen Zunge, der wir die Sprache verdanken, die uns von den Tieren unterscheidet. Welche Bedeutung die Zunge für Identität und Selbstwirksamkeit eines Menschen hat, war früheren Gesellschaften offenbar bewusst. Spätestens seit dem Mittelalter wurden Gotteslästerer und Lügner mit dem Abschneiden der Zunge bestraft, auch die Kolonialgeschichte kennt diese grausige Bestrafung für aufmüpfige Sklaven. Werner: "Das ist so ein offensichtliches Zeichen: 'Der hat offensichtlich die Unwahrheit gesagt, der hat seinen Gott gelästert, dann kann er das jetzt nicht mehr machen. Das wäre die pragmatische Ebene. Aber es hat natürlich auch eine wahnsinnig symbolische Ebene, weil die Zunge der Sitz der eigenen Stimme und der Persönlichkeit ist und fast stellvertretend steht für das gesamte Leben eines Menschen. Einem Menschen, dem man die Zunge abschneidet, dem könnte man auch das Leben nehmen."

Florian Werner hat mit seinem Porträt der Zunge mehr als eine Kulturgeschichte geliefert. Ausgangspunkt ist für ihn stets das eigene Erleben, das verleiht dem Buch eine Sinnlichkeit, die ihresgleichen sucht.

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