Ein Galgen auf den Bauernprotesten in Kassel
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Ein Galgen auf den Bauernprotesten in Kassel

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Protestwut und Hassrhetorik: Verroht unsere Gesellschaft?

"Klimaterroristen", "Remigration", "Heizungsstasi": Im politischen Diskurs wird verbal aufgerüstet. Auf Protesten sind Galgen zu sehen. Wird die Gesellschaft aggressiver? Was Experten sagen – und wie Vorschläge für ein besseres Miteinander aussehen.

Über dieses Thema berichtet: Theo.Logik am .

"Remigration" ist das Unwort des Jahres 2023. Ein "rechter Kampfbegriff", begründete die Jury ihre Entscheidung. Und auch mit anderen Begriffen wie "Sozialklimbim", "Heizungsstasi" oder "Klimaterroristen" wurde in der politischen Debatte nicht nur im vergangenen Jahr verbal ordentlich aufgerüstet.

Sprachliche Tabus – "das kann man jetzt mal sagen"

"Was wir beobachten können, ist, dass Einzelinteressen sich stärker Gehör verschaffen", sagt Rafael Behr im BR. Der Professor für Polizeiwissenschaften, der Soziologie und Kriminologie am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg lehrt, sieht eine aggressiv gefärbte Sprache als eine Strategie dafür. "Das sehen wir insbesondere bei politischen Parteien wie der AfD", sagt Behr. Diese würde Tabus austesten und damit Menschen aufschrecken. Dabei schwinge auch die Hoffnung mit, dass, wenn etwas einmal gesagt ist, auch andere denken, "das kann man jetzt mal sagen".

"In Strauß-Jahren herrschte deutlich rauerer Ton im Parlament"

Dass die Debatten in den vergangenen Jahren heftiger geworden sind, beobachtet auch der Politologe Jannis Julien Grimm vom Berliner Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung. Allerdings, gibt er gegenüber BR24 zu bedenken, sei es auch immer eine Frage der historischen Perspektive. Eine starke Orientierung an der bürgerlichen Mitte sei erst seit Schröder und Merkel üblich geworden. "Eine stärkere Links-Rechts-Abgrenzung war vorher gang und gäbe: In den Strauß-Jahren herrschte auch ein deutlich rauerer Ton im Parlament."

"Wir haben auch noch lange keinen Terror auf der Straße, wie wir es damals bei der RAF oder dem NSU gesehen haben", sagt Grimm. Historisch gesehen habe es vor ein paar Jahrzehnten also noch Zeiten gegeben, die politisch durchaus rauer waren, als sie sich heute darstellen. Man könne in der Politik immer Reaktion und Gegenreaktion beobachten: Auf die liberale Politik der vergangenen Jahre folgt jetzt der Aufstieg der "Rechten". Eine Art Jo-Jo-Effekt.

Galgen auf Demonstrationen: Wird Gesellschaft aggressiver?

Plakate mit Galgen, an denen symbolisch "Politiker baumeln", sind seit den Pegida-Protesten 2014 immer wieder bei Demos zu sehen. Eine neue Eskalationsstufe schien kürzlich erreicht, als Hunderte Demonstranten Wirtschaftsminister Robert Habeck an einem Fähranleger im norddeutschen Schlüttsiel empfingen; einige von ihnen durchbrachen sogar eine Polizeikette, um auf die Fähre zu gelangen, woraufhin diese mit Habeck wieder ablegen musste. Von einer Verrohung der Sitten war die Rede.

Wird unsere Gesellschaft aggressiver?

"Wir wissen aus der Geschichte, dass in Zeiten von Instabilität und Krisen die Unsicherheit bei den Menschen zunimmt", sagt Dieter Frey, Professor und Leiter des LMU Center for Leadership and People Management in München im Gespräch mit BR24. "Frustrationen addieren sich, und da gibt es mit Corona, Kriegen, hohen Flüchtlingszahlen, Inflation und so weiter gerade eine Menge."

Kriminalisierende Sprache und ihre Folgen

Der Frust wandle sich in Aggression, wenn man mit einer Situation unzufrieden sei und andere dafür verantwortlich mache, erklärt der Wirtschaftspsychologe weiter. Parteien wie die AfD würden dann – teils mit aggressiver Wortwahl – versuchen, die Ängste der Leute aufzugreifen, indem sie Sündenböcke und einfache Lösungen präsentierten.

Sprache, die bestimmte Gruppen kriminalisiere oder pathologisiere, könne dazu führen, "dass aus friedliebenden Familienvätern Radikale werden, die dann Mittel anwenden, die eigentlich undenkbar sind", sagt Politologe Grimm. Begriffe wie "Klima-RAF" für Aktivisten der "Letzten Generation" bereiten den Boden dafür, dass Autofahrer meinen, das Recht in die eigene Hand nehmen zu können und die Aktivisten von der Straße zu reißen oder anzufahren.

"Menschen werden nicht mehr als Menschen gesehen"

Habeck auf der Fähre sei ebenfalls ein Musterbeispiel dafür, dass Menschen nicht mehr als Menschen gesehen werden, "sondern als Symbole für das Andere, das einen bedroht". Konstante Projektionsflächen für Bedrohungsszenarien seien neben Politikerinnen und Politikern oft auch Minderheiten wie LGBTQI+, Migrantinnen und Migranten oder, in antisemitischen Narrativen, Juden.

"Auch Frauen sind häufiger betroffen, vor allem Frauen in der Politik, die als migrantisch gelesen werden", sagt Grimm. Ein Paradebeispiel dafür sei etwa die SPD-Politikerin und ehemalige stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amtes, Sawsan Chebli.

Soziologe: Weniger Verrohung als Entsolidarisierung

Soziologe Behr möchte trotz allem nicht von einer Verrohung der Gesellschaft sprechen. Schaue man sich beispielsweise die Corona- oder Bauernproteste an, müsse man eher von einer Entsolidarisierung sprechen, die man in der soziologischen Forschung schon seit Jahren beobachte: Die Individualisierung bedeute, dass viel mehr Leute meinten, tun zu können, was sie wollten.

"Jeder versucht zunächst seine eigenen Interessen durchzusetzen. Das führt dann dazu, dass nicht mehr nach den Pflichten geschaut wird, sondern eher nach den Möglichkeiten der Selbstartikulation, der Selbstwirksamkeit in der Gesellschaft, auch der Entfaltung", sagt Behr.

Demos gegen Rechtsextremismus als Gegenbewegung

Unabhängig davon, ob man es nun eine Verrohung oder Entsolidarisierung der Gesellschaft nennt: In den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in jüngster Zeit könne man wiederum eine Gegenreaktion ausmachen, ist sich der Münchner Psychologe Frey sicher. Das Bekanntwerden des Geheimtreffens in Potsdam, bei dem es um die Deportation von Menschen mit Migrationsgeschichte ging, sei ein Auslöser gewesen.

"Der Widerstand der demokratischen Mitte fehlte davor, weil keiner so recht wusste, was er gegen die rechtsextremistischen Tendenzen tun sollte", sagt Frey. "Durch das Aufdecken des Geheimtreffens sah man, da passiert etwas, das nie wieder passieren soll. Und dies führte dazu, dass viele Menschen auf die Straße gingen, um zu zeigen: Ich bin die Mehrheit und nicht ihr!"

Potsdam-Treffen war "Moral Shock"-Moment

Von einem "Moral Shock"-Moment spricht Politologe Grimm. "Es war ein Bruch mit unserem Wertekonsens, der so emotional gewirkt hat, dass er Menschen mobilisiert hat, die sonst gar nicht politisch organisiert oder zivilgesellschaftlich aktiv sind."

Immer wieder gebe es solche Einzelereignisse, die zu Trigger-Momenten würden und bei denen die Leute sagen würden: "Das ist die Grenze, jetzt oder nie!" Diese Einzelereignisse seien laut Grimm aber lediglich der Auslöser für eine Summe an Dingen, die sich schon länger aufgestaut hätten.

Stadt Bamberg Paradebeispiel für aktuelle Demonstrationen

Die Stadt Bamberg sei ein Paradebeispiel für die aktuellen Demonstrationen, sagt Grimm, "weil es sich nicht um eine der Großstädte handelt, in der man typischerweise Massenproteste auf der Straße vermutet". Die Stadt sei weder besonders links noch besonders durch ein Erstarken der AfD bedroht. Vielmehr bilde sie das, was landläufig als bürgerliche Mitte bezeichnet werde, ganz gut ab.

"Wenn dort nun mit über 6.000 Menschen fast zehn Prozent der Stadtbevölkerung an einer Demo teilnehmen, dann ist das nicht nur beachtlich, sondern sogar eine der größten Demonstrationen, die man dort je erlebt hat", betont der Politologe. "Das zeigt deutlich: Die Proteste 'gegen rechts' sind eben kein urbanes Phänomen der linken, woken Bubble, so wie die AfD das gerne darstellen möchte."

Im Ringen um individuelle Freiheiten und um Partikularinteressen gehe der Gemeinsinn oft unter, sagt Rafael Behr, aber eben nicht verloren, wie die bundesweiten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zeigten: "Es laufen dort Kirchenvertreter mit, Gewerkschaften, Kulturschaffende, Bürger und Bürgerinnen, Alte und Junge. Da sehe ich ein gewisses Potenzial einer neuen Form von Solidarität."

"Ich kann nicht mehr sagen, ich fühle mich nicht zuständig"

Dabei allein möchte es aber Dieter Frey nicht belassen. Er erwarte von Führungspersonen in der Wirtschaft, Wissenschaft und in der Gesellschaft, dass sie aufstehen und kommunizieren, für welche Werte sie stehen. "Und ich appelliere an die Verantwortung jedes Einzelnen in Sportvereinen, Kirchen, Betrieben und Schulen. Ich kann nicht mehr sagen, ich fühle mich nicht zuständig."

Mit Blick auf die Politik sagt Frey, die Menschen erwarteten in Krisenzeiten Klarheit und Führung und würden Streit nur schwer aushalten. Sie suchten "den Leader mit Rückgrat, der aber gleichzeitig Menschen zusammenbringt und das Gemeinsame betont. Im Moment geht es weltweit um die beiden Themen Wirtschaft und Migration, und hier ist klare Orientierung und Führung angesagt, die wir zu wenig in Deutschland erleben. Das heißt jetzt aber nicht den autoritären Führer, sondern im Rahmen einer Demokratie."

Gleichzeitig müssten alle Bürger, Führungskräfte und Lehrer lernen, dass sie für die Werte unserer Demokratie mitverantwortlich seien und diese auch den Schülern, Studenten und Mitarbeitern vermitteln. Dies könne zum Beispiel im Rahmen der diskutierten Verfassungsviertelstunde an den Schulen geschehen, sagt Frey: "Die Kinder und Jugendlichen können so zu Multiplikatoren werden, die die Werte in die Familien, in Sportvereine und andere gesellschaftliche Bereiche tragen."

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