Symbolbild: Weinende Frau, die das Gesicht in der Hand vergräbt
Bildrechte: BR/Julia Müller

Von Vergewaltigung Betroffene stehen oftmals unter Schock und können nicht sofort daran denken, zur Polizei zu gehen.

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Vergewaltigungen - Warum zeigen so wenige Frauen an?

Rund 1.500 Vergewaltigungen wurden im letzten Jahr in Bayern angezeigt. Das sind aber nur die Fälle, die in der polizeilichen Kriminalstatistik auftauchen. Studien zeigen, dass nur etwa zehn Prozent der Fälle bei der Polizei landen. Warum ist das so?

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Nur ein Bruchteil der Fälle von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung werden angezeigt. Die Täter werden also in den meisten Fällen erst gar nicht ermittelt. Nur jede zehnte Tat taucht bei Vergewaltigungen oder sexuellem Missbrauch im sogenannten Hellfeld auf - also in der polizeilichen Kriminalstatistik. Das besagt die - nach eigenen Angaben - größte Dunkelfeldstudie in Deutschland, letztes Jahr veröffentlicht vom Bundeskriminalamt. Meistens sind die Opfer Frauen.

Seit einigen Jahren gibt es Maßnahmen, die es für Betroffene einfacher machen sollen, sich für eine Anzeige zu entscheiden. Die sind aber noch nicht immer flächendeckend umgesetzt, wie Recherchen des Bayerischen Rundfunks zeigen.

Betroffene unter Schock

Die Geschichte von Kira (Name von der Redaktion geändert) gibt Einblick, warum sich viele Frauen schwertun, nach einer Vergewaltigung zur Polizei zu gehen. "Ich wurde mit Anfang 20 von einem Bekannten vergewaltigt", erzählt die heute 27-Jährige, "und ich habe das Ganze erst mal gar nicht realisiert und war komplett überfordert mit der Situation".

Kira war vor Kurzem in eine größere bayerische Stadt gezogen, wohnte vorher etwas ländlicher. Den jungen Mann kannte Kira etwa ein halbes Jahr. Sie waren öfter mit Freunden unterwegs. "Das Ganze ist in einer Wohnung passiert, einer WG. Währenddessen war auch ein Mitbewohner anwesend, aber ich bin mir nicht sicher, ob er was von der Tat mitbekommen hat." Kira hatte gerade angefangen zu studieren.

Tatort Privatwohnung

Dort, wo Kira die Tat erlebt hat - in einer privaten Wohnung - passiert ein Großteil der Vergewaltigungen oder des sexuellen Missbrauchs. Rund 70 Prozent. Das sagt die BKA-Dunkelfeldstudie mit dem Titel "Sicherheit und Kriminalität in Deutschland". In etwa 16 Prozent der Fälle ist der Täter der Partner oder Ex-Partner, in über 40 Prozent der Fälle ein Freund oder Bekannter, mehr als die Hälfte der Täter stammen also aus dem privaten Umfeld. So wie bei Kira.

Sie habe damals nicht einmal darüber nachgedacht, zur Polizei zu gehen, erzählt Kira, "weil es so viele andere Dinge gab, mit denen ich erstmal fertig werden musste". Zum Beispiel, sich möglichst schnell um die Verhütung zu kümmern, um die Pille danach. Außerdem habe sie sich mehrere Monate sehr unwohl in ihrer Haut gefühlt. "Ich habe mich sehr oft gewaschen, hatte sehr wenig Selbstwertgefühl", erzählt sie rückblickend, "man hatte das Gefühl, dass man nicht gut genug ist".

Oft unsichere Beweislage - Gedächtnisprotokoll hilfreich

Scham, Schuldgefühle, Überforderung - laut Beratungsstellen sind das typische Gründe, nicht zur Polizei zu gehen. Kira wäre womöglich erst nach einem Jahr bereit gewesen, die Tat anzuzeigen. "Aber dann wäre wahrscheinlich die Beweislage auch nicht mehr so griffig gewesen", sagt die 27-Jährige.

Die Beweislage - ein oft kritischer Punkt bei sexualisierter Gewalt. Denn häufig steht Aussage gegen Aussage. Oft können oder wollen sich Betroffene nicht an jedes Detail erinnern. Die Münchner Opferschutz-Anwältin Antje Brandes empfiehlt, möglichst schnell ein Gedächtnisprotokoll aufzuschreiben, um sich später bei einer möglichen Aussage sicherer zu fühlen. Brandes weiß zwar, dass es sehr schwer sei, das Erlebte zu berichten, gibt aber zu bedenken: "Wir wollen alle in unserem Rechtsstaat, dass Täter von Sexualdelikten überführt und auch bestraft werden. Und unser Beweis ist eben gerade in solchen Aussage-gegen-Aussage-Delikten die Aussage der Geschädigten." Das schnelle Sichern von weiteren Beweisen sei aber auch wichtig. Opferschutz-Anwältin Brandes verweist auf die Möglichkeit der vertraulichen Spurensicherung.

Vertrauliche Dokumentation schafft Zeit

In Großstädten wie München haben Betroffene die Möglichkeit, nach einem Übergriff vertraulich Spuren sichern zu lassen, ohne dass gleich die Polizei oder Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden muss. In der Frauenklinik der München-Klinik in Harlaching zeigt der Gynäkologe und Chefarzt Christoph Scholz ein Untersuchungs- und Dokumentationsset, das für solche Fälle zur Verfügung steht. DNA-Abstrichtupfer, Hautspurenstempel oder Anleitungen zu Fotodokumentation sind darin enthalten. Die vertrauliche Spurensicherung schafft Zeit, weil die Spuren für sechs Monate im rechtsmedizinischen Institut eingelagert werden. Das hilft Frauen, die die Tat nicht sofort anzeigen wollen. "Sei es, dass der Täter aus dem engsten Familienkreis kommt, sei es, dass die Frau einfach noch nicht so weit ist, eine Anzeige zu stellen", sagt Christoph Scholz.

Gesetz bis heute nicht umgesetzt

Die Materialien zur Spurensicherung bezahlt die Stadt München auf eigene Initiative - und das, obwohl ein solches Angebot seit 2020 eine Kassenleistung sein müsste. Einen entsprechenden Vertrag hat das Land Niedersachsen bereits abgeschlossen. Und Bayern? Das bayerische Gesundheitsministerium schreibt auf Anfrage, ein Vertrag zwischen Kassen und Krankenhäusern und Ärzten sei fast unterschriftsreif - bisher sei aber keine Einigung bezüglich der Fallpauschale erzielt worden. Es geht also ums Geld. Man rechne aber damit, dass ein Vertrag Anfang 2024 komme.

Videobefragung erleichtert Aussage

Wenn Frauen sich für eine Anzeige entscheiden und es zum Prozess kommt, ist es außerdem seit 2019 Pflicht, dass ihre Aussage bei Gericht als Video aufgenommen und abgespielt werden kann. Die Opfer müssen also nicht im Angesicht des Beschuldigten aussagen. Das bayerische Justizministerium teilt dem BR mit, Amtsgerichte könnten entsprechende Videotechnik auf Anfrage ausleihen. Fest ausgestattet seien bisher 50 von 77 Amtsgerichten und zwei von 22 Landgerichten. Wie oft in den vergangenen Jahren diese Technik in Verfahren wegen Vergewaltigung eingesetzt wurde, dazu liegen dem Ministerium keine Daten vor.

Zahl der Anzeigen zuletzt gestiegen

Kira hat erst fünf Jahre nach der Tat eine Beratungsstelle aufgesucht und dann eine Selbsthilfegruppe gegründet. Heute geht es ihr besser, sagt sie. Die Tat liegt inzwischen sieben Jahre zurück. Dass sie die Vergewaltigung nicht angezeigt hat - darauf blickt sie mit gemischten Gefühlen zurück. "Klar ist es auf der einen Seite schade, dass ich es nicht gemacht habe", sagt sie, "aber auf der anderen Seite bin ich auch froh, dass ich den ganzen schwierigen Prozess nicht mitmachen musste".

Viele Vergewaltigungen bleiben also im Dunkeln, mutmaßliche Täter werden nicht verfolgt. Immerhin: Die Zahl der Anzeigen ist zwar auf niedrigem Niveau, aber sie steigt in Bayern von Jahr zu Jahr.

Anmerkung: Wenn Sie sexualisierte Gewalt erlebt haben, finden Sie Hilfsangebote beim "Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen" unter der Telefonnummer 116 016 oder beim "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" unter der Telefonnummer 0800 22 55 530.

Im Video: Aufklärungskampagne der Stadt München

Die Stadt München hat eine Aufklärungskampagne zur Akutversorgung nach Vergewaltigung vorgestellt. Das Ziel: Betroffene sollen schnell, sicher und vor allem unkompliziert Zugang zu Hilfe bekommen.
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Die Stadt München hat eine Aufklärungskampagne zur Akutversorgung nach Vergewaltigung vorgestellt.

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