Ein Kreuz zum Gedenken an ein Opfer eines Verkehrsunfalls steht an einer Landstraße.
Bildrechte: picture alliance/dpa | Julian Stratenschulte

Ein Kreuz zum Gedenken an ein Opfer eines Verkehrsunfalls steht an einer Landstraße.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Mit Vollgas in den Tod: Mörderisches Rasen auf deutschen Straßen

Illegale Autorennen und Raserei sind ein lebensgefährliches Problem auf deutschen Straßen. Tendenz: stark steigend. Trotz drastisch erhöhter Strafen bleibt die abschreckende Wirkung aus. Bleibt die Frage: Wie kann man die Raser ausbremsen?

Über dieses Thema berichtet: DokThema am .

Ob Ampel-Duelle in der Innenstadt oder verbotenes Kräftemessen auf der Autobahn – das Rasen findet kein Ende. Obwohl der Gesetzgeber 2017 mit dem sogenannten Raser-Paragrafen die Strafen drastisch erhöht hat, erhöhten sich auch die angezeigten Delikte: 2019 erfasste die Polizei deutschlandweit 2.163 illegale Autorennen. 2021 waren es 5.674. Das ist ein Anstieg von mehr als 160 Prozent. Was treibt die Raser an, wie ticken sie? Und wie viel ist ihnen ein Menschenleben wert, wenn sie vorsätzlich andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr bringen? Politik, Ermittlungsbehörden, aber auch die Automobilindustrie müssen sich fragen lassen, wie sich das Phänomen illegaler Rennen auf Dauer ausbremsen lässt.

  • Zum Artikel: Negativrekord - 605 illegale Rennen auf Bayerns Straßen

Unfall auf A95 mit 300 km/h

Im Spätsommer 2019 kommt es nachts auf der A95 bei Starnberg bei mehr als 300 km/h zu einem Horror-Crash. Zwei Freunde, 22 und 23 Jahre jung, hatten sich einen 600 PS starken Audi R8 geliehen, mit dem Ziel, die Grenzen des Sportwagens auszutesten. Tagsüber überschritten sie 149-mal die erlaubte Geschwindigkeit, bevor es nachts zum tragischen Unfall kommt. Ben Apostoli verstirbt noch an der Unfallstelle. Alex K. überlebt und behauptet, der Beifahrer gewesen zu sein. Auch wenn der Polizei an dieser Darstellung schnell Zweifel kommen, braucht die Unfallanalyse viele Monate, bis ein belastbares Ergebnis über die Ereignisse der Unfallnacht vorliegen.

Erst im Mai 2021 veröffentlicht die Staatsanwaltschaft das Gutachten, in dem festgestellt wird: Nicht Ben saß zum Zeitpunkt des Unfalls am Steuer, sondern Alex K. Gegen ihn erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage wegen "verbotenem Kraftfahrzeugrennen mit fahrlässiger Tötung".

Im Video: Wie lässt sich das Phänomen illegaler Rennen auf Dauer ausbremsen?

Mit Vollgas in den Tod
Bildrechte: BR
Artikel mit Video-InhaltenVideobeitrag

Mit Vollgas in den Tod

Jung, männlich, Raser?

Immer häufiger kommt es zu diesen schrecklichen Nachrichten. Doch wer sind die Menschen, die unverantwortlich andere und auch sich selbst in Lebensgefahr bringen? Laut Andreas Winkelmann, erster Oberamtsanwalt in Berlin, unterscheiden Verkehrspsychologen drei Typen: den Kick-Sucher, den berauschten Täter und denjenigen, der grundsätzlich anecken und keine Grenzen akzeptieren will.

Meist seien das junge männliche Erwachsene, sehr viele Führerscheinneulinge, hat Ernst Neuner, Leiter der Polizeiinspektion Verkehrsüberwachung München, beobachtet. "Grundsätzlich haben wir entwicklungspsychologisch gesehen natürlich in der Jugendphase von 18 bis 25 das größte Risiko", weiß Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry, die sich in Zürich intensiv mit dem Raser-Phänomen beschäftigt und psychologische Gutachten zur charakterlichen Fahreignung erstellt. Fehlende Erfahrung gepaart mit dem Gefühl, alles im Griff zu haben, eine enorme Selbstüberschätzung, auf der Suche nach den eigenen Grenzen – diese Kombination erhöhe das Risiko, "dass sie sich in einer unangemessenen Form und diese Grenze herantasten und das unter Umständen dann nicht überleben".

Aber unter den Rasern finde man häufig auch junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht positionieren können und sich mit ihrem Auto "eine neue, eine andere äußere Hülle geben". Gefährliche Fahrsituationen, die sie meistern, gleichen ihr angekratztes Selbstbewusstsein aus, meint Oberamtsanwalt Winkelmann. "Für die ist Geschwindigkeit wie Bungee-Jumpen auf der Straße."

PS-Power für junge Raser als Geschäftsmodell?

Doch wie kommen gerade so junge Männer an die hochmotorisierten Fahrzeuge? Einige Autovermieter haben den Raser- und Poser-Boom als Geschäftsmodell für sich entdeckt. Ihr Marketing spricht direkt die Zielgruppe junger Männer ab 18 Jahren an. "Viele seriöse Autovermietungen setzen ein Mindestalter für solche Fahrzeuge von 25 voraus. Wir haben leider Gottes andere Autovermietungen, die das nicht so handhaben", sagt Polizeiinspektionsleiter Neuner.

Rechtlich sei da allerdings nicht viel zu machen: Sobald die Versicherung mitspielt, kann ein Auto mit 500 PS in die Hände eines 18-Jährigen gelangen. Oft legen ein paar junge Männer zusammen, um ihr "Traumauto" auszuleihen. Längst nicht immer ist eine Kreditkarte dazu nötig. "Die Jungs tauschen dann untereinander das Auto aus. Und wollen natürlich testen und zeigen, dass sie mit diesen Autos umgehen können. Dass da mitunter die Katastrophe vorprogrammiert ist, ist außer Frage", sagt Oberamtsanwalt Winkelmann. Deutschlandweit ist diese Vermietpraxis eine der Ursachen für das Phänomen illegaler Rennen.

Zu lasche Rechtsprechung?

Die Rechtsmittel für härtere Strafen gegen Raser und illegale Rennen sind mittlerweile gegeben. Dennoch werden viele Urteile in der Bevölkerung als nicht verhältnismäßig empfunden. Das läge daran, dass jeder Fall durch die Richter einzeln beurteilt wird, betont der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU). "Und da macht es einen großen Unterschied, ob eine Tat vorsätzlich begangen wird oder ob sie fahrlässig begangen wird. Der Täter handelt vorsätzlich, wenn er den Tod für möglich hält und billigend in Kauf nimmt."

Kommen auf diese Weise "viele davon", wie es der SPD-Landtagsabgeordnete Markus Rinderspacher beurteilt? Oberamtsanwalt Andreas Winkelmann, der seit 2018 eine Spezialeinheit gegen illegale Autorennen in Berlin leitet, hält dagegen: Er hält das Gesetz mit dem Raser-Paragrafen für gelungen. "Weil es wird nur die abstrakte Gefahr bestraft, schon das Durchführen am Rennen, die Teilnahme am Rennen, wird bestraft. Ich brauche also nicht, wie es bei anderen Verkehrsdelikten ist, diesen Unfall, oder einen Beinah-Unfall", sagt er. So kann die Polizei direkt Maßnahmen zu ergreifen, die die Täter sensibel treffen, wie etwa den Führerschein oder das Auto einziehen. Der Strafrahmen sei ausreichend, betont Winkelmann. Es sei die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, dass vor Gericht Tat und Schuld angemessene Strafen verhängt werden.

Doch dazu müssen die Raser erwischt werden. Oder wie es die Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry formuliert: "Gesetze schaffen ist eines, aber diese zu vollziehen und zu kontrollieren, das ist die andere Geschichte." Erst mit sehr vielen Kontrollen würden die Leute merken, dass das Verhalten auch negative Konsequenzen nach sich zieht. "Ergo stelle ich das Verhalten ein." Doch wie sieht es in der Praxis aus mit der Kontrolle? Es gibt in Städten Raser-Hotspots. Die Polizei kontrolliert mehr und regelmäßiger, sucht auch den offenen Dialog mit potenziellen Tätern, um präventiv einzuwirken. Doch die Raser haben sich häufig organisiert – sie sind vernetzt und warnen sich. So erzielen die Kontrollen nicht den gewünschten Effekt.

Tempolimit gegen tödliche Raserei?

Wer über Raser und illegale Autorennen spricht, kommt am Thema "Tempolimit" nicht vorbei. Es scheint logisch: Wenn nur noch 120 km/h gefahren werden dürfen, kann man nicht mehr legal mit 250 km/h in der Leitplanke landen. Dennoch blockiert die Politik weiterhin: Auf ein Tempolimit, pauschal auf allen Autobahnen, können sich die Parteien nicht einigen. Auch, weil die Automobilindustrie es nicht will?

Christine Deckwirth vom Verein LobbyControl weiß, dass die Autobranche eine der einflussreichsten Lobbygruppen in Berlin ist. "Das ist eine sehr mächtige Branche, die von der Politik auch sehr viel angehört wird." Der ADAC, dessen Mitglieder beim Tempolimit uneins sind, spricht daher offiziell keine Empfehlung aus. Im Gegensatz zur Verkehrspsychologin Bächli-Biétry: "Die Geschwindigkeit ist hoch sicherheitsrelevant und mit einem Geschwindigkeitslimit in Deutschland, man kann es nicht anders sagen, könnte man ganz viele Leben retten." Laut einer Datenanalyse wären es bis zu 140 Menschenleben pro Jahr auf deutschen Autobahnen.

Eine Umfrage von 2020 kommt zu dem Ergebnis, dass die Deutschen inzwischen mehrheitlich für ein Tempolimit sind. Fakt ist: In der EU ist Deutschland das einzige Land, in dem es auf Autobahnen keine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. Beschränkt ist das Tempo auf 30 Prozent der Autobahnen, etwa 13 Prozent sind durch Baustellen reguliert. Bleiben etwa 57 Prozent ohne Tempolimit und damit frei zum Rasen.

Kreative Lösungen

Die Praxis zeigt: Das unverantwortliche Rasen auf Deutschlands Straßen geht ungebremst weiter. Kreative Lösungen sind gefragt, die auch abseits von Strafen das Problem an der Wurzel packen. Ideen gibt es bereits: So könnte die charakterliche Eignung für die Fahrerlaubnis in den Fokus gestellt werden, meint Neuner. Andreas Winkelmann plädiert für einen Stufenführerschein. Bedeutet, Fahranfänger dürften keine hochmotorisierten Fahrzeuge steuern. Auch private Initiativen, wie etwa legale Autorennen, bei denen PS-Leidenschaft abseits öffentlicher Straßen ausgelebt werden kann, könnten zumindest unterstützend wirken.

In München wird Alex K. vom Amtsgericht zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung, 400 Stunden gemeinnütziger Arbeit und zu einer Fahrerlaubnissperre von weiteren drei Jahren verurteilt. Wie so häufig wird auch dieses "Raser-Urteil" von der Öffentlichkeit als zu milde empfunden. Recht und Gerechtigkeit liegen beim Thema illegale Autorennen oft weit auseinander.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!