Kanzler Scholz verfolgt auf der Regierungsbank neben Habeck und Lindner die Debatte nach einer Regierungserklärung zur Haushaltslage
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Kanzler Scholz verfolgt auf der Regierungsbank neben Habeck und Lindner die Debatte nach einer Regierungserklärung zur Haushaltslage.

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Halbzeit der Ampel: Ist die Regierung noch zu retten?

Vor zwei Jahren startete die selbsternannte "Fortschrittskoalition" aus SPD, Grünen und FDP. Doch die Aufbruchstimmung von damals ist passé, die Umfragewerte sind verheerend. Ist die Ampel am Ende oder schafft sie doch noch die Wende?

Über dieses Thema berichtet: Dossier Politik am .

Die Meinungen über die Halbzeitbilanz der Ampelkoalition gehen weit auseinander. Der Sozialwissenschaftler Robert Vehrkamp, Berater bei der Bertelsmann Stiftung, betont im "Dossier Politik" auf BR24: Selten habe es eine Regierung gegeben, die sich so viel vorgenommen habe. Und von den geplanten Projekten seien schon mehr als die Hälfte umgesetzt worden. Auch mehrere Lobby-Verbände, die BR24 befragt hat, geben der Ampel befriedigende bis gute Noten.

Ganz anders sieht das der Politikwissenschaftler und Publizist Albrecht von Lucke. Nur der Wille zur Macht und die Angst vor einem katastrophalen Abschneiden bei Neuwahlen halte die Ampelkoalition noch zusammen, sagt der Herausgeber der politischen Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" im "Dossier Politik". Er wirft der Bundesregierung ein umfassendes Versagen vor.

"Geschäftsgrundlage abhandengekommen"

Der Regierung sei die gemeinsame Geschäftsgrundlage abhandengekommen, konstatiert Albrecht von Lucke. Verantwortlich dafür seien einerseits der russische Überfall auf die Ukraine und die dadurch ausgelöste Energiekrise, andererseits das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Teile der Haushaltsplanung für grundgesetzwidrig erklärt hat. Der Kompromiss zwischen der FDP und den Grünen sei nicht mehr zu finanzieren und damit gescheitert. Die FDP sperre sich gegen Steuererhöhungen und halte gleichzeitig an problematischen Subventionen wie dem Dienstwagenprivileg fest. Die Grünen setzten vor allem auf staatliche Investitionen, um den gesellschaftlichen Umbau Richtung Klimaneutralität zu bewältigen.

Die Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe diese Woche zwar eine Chance geboten, ein deutliches Zeichen des Aufbruchs für die kriselnde Regierung zu setzen und eine innenpolitische Zeitenwende einzuleiten, so von Lucke. Doch Scholz habe diese Chance nicht ergriffen, auch weil er dazu nicht in der Lage sei: "Olaf Scholz verfügt nicht über die Gabe einer großen Rede. Er bräuchte sie aber gerade mehr als jeder Politiker zu anderen Zeiten", so von Lucke.

"Eine Regierung in vollem Lauf"

Die Ampelkoalition sei durchaus erfolgreich, argumentiert dagegen der Sozialwissenschaftler Robert Vehrkamp. Er leitet das Programm "Zukunft der Demokratie" der Bertelsmann-Stiftung und hat zusammen mit der Universität Trier im September eine Halbzeitbilanz der Ampel-Regierung vorgelegt – also noch vor dem jüngsten Bundesverfassungsgerichtsurteil. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, die Ampel sei eine "gut funktionierende und in vollem Lauf befindliche Regierung".

Im "Dossier Politik" auf BR24 bekräftigt Vehrkamp diese Einschätzung trotz der aktuellen Haushalts- und Vertrauenskrise. Die Koalition habe sich viel vorgenommen, mehr als viele Vorgängerregierungen. So habe man sich im Koalitionsvertrag auf mehr als 450 konkrete Vorhaben verständigt, darunter auch große, wichtige Reformen. "Die Ampel hat inzwischen ein gutes Drittel ihrer Vorhaben vollständig umgesetzt und weitere 20 Prozent substanziell angeschoben", so Vehrkamp. "Das ist aus unserer Sicht eine wirklich vorzeigbare Halbzeitbilanz." Allerdings habe sich die Ampel dabei sehr schlecht präsentiert.

"Wachstumsmotor für die AfD"

"Das Drama ist, dass diese Koalition das Land nicht überzeugt", befindet der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Er kann die positive Sicht der Bertelsmann-Studie auf die Regierungsarbeit nicht nachvollziehen und warnt: Wenn die Koalition es nicht schaffe, besser und klarer zu regieren, und auch die demokratische Opposition im Bundestag weiterhin keine eigenen Konzepte zur Lösung der vielen Probleme vorlege, dann sei das ein Wachstumsmotor für die AfD.

In einem sind sich die Experten aber einig: Die Ampel-Regierung werde nicht schon bald auseinanderbrechen. Allein schon wegen der schlechten Umfragewerte werde keine der Koalitionsparteien Neuwahlen riskieren.

Weitere Stimmen zur Zwischenbilanz auf verschiedenen Feldern

Bärbel Heidebroek, Präsidentin des Bundesverbandes Windenergie: "Wir würden der Ampel-Regierung für die Halbzeit eine Schulnote 2 geben, da wir merken, dass der Windkraft-Ausbau deutlich anzieht. Die Voraussetzung dafür war, dass die Ampelkoalition die Flächenziele deutlich festgeschrieben und angehoben hat, dass wir jetzt ein klares Ziel haben und die Genehmigungsverfahren beschleunigt werden."

Simon Schütz, Verband der Automobilindustrie: "Aus unserer Sicht fällt die Halbzeitbilanz der Ampel-Regierung bisher durchwachsen aus. Es gibt Licht und Schatten. Was die kurzfristige Krisenpolitik angeht, hat die Bundesregierung sicherlich nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine gezeigt, dass sie dazu in der Lage ist, schnell und effizient zu reagieren. Gleichzeitig fehlen oft die langfristigen Konzepte, beispielsweise bei der Energieversorgung."

Georg Wurth, Vorsitzender des Deutschen Hanfverbands: "Die Ampel-Regierung wollte den Cannabis-Markt komplett regulieren und Fachgeschäfte für Erwachsene in ganz Deutschland einführen. Diesen Plan hat die Ampel-Regierung dann aber mit Verweis auf EU-Recht wieder aufgegeben. Die Ampel-Regierung ist also als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Trotzdem ist das Cannabis-Gesetz ein großer Fortschritt, insbesondere wenn man sich die vorherigen Regierungen anschaut, die einfach immer so weitermachen wollten, mit der massenhaften Strafverfolgung von Cannabis-Konsumenten."

Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl: "Die Ampel-Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag viele Verbesserungen für geflüchtete Menschen versprochen. Anstatt diese Verbesserungen umzusetzen, ist die Ampel-Regierung aber in eine Debatte der Ausgrenzung, der Entrechtung, der Auslagerung vom Recht auf Asyl eingestiegen. Diese Debatte hilft niemandem, weder geflüchteten Menschen noch den Kommunen."

Dieser Artikel ist erstmals am 3.12.2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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