Palästinenser in Rafah, im Süden des Gaza-Streifens, blicken am 05.01.2024 auf die Ruinen eines Gebäudes, nach einem israelischen Luftangriff.
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Rafah am 5. Januar 2024, im Süden des Gaza-Streifens: Anwohner inspizieren die Ruinen eines Gebäudes, nach einem israelischen Bombenangriff.

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Gazas Zukunft? Israel hat darauf keine einhellige Antwort

Drei Monate nach dem Hamas-Massaker liegen weite Teile des Gazastreifens in Trümmern. Israels Verbündete drängen zu einem Plan für die Zeit nach dem Krieg. Doch Israels Koalition kann sich nicht einigen.

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Mit einem heftigen Eklat endete in der Nacht zu Freitag die Sitzung des israelischen Sicherheitskabinetts. Wutentbrannt hätten mehrere Teilnehmer noch vor dem Ende der Besprechung den Raum verlassen, darunter auch hohe Offiziere, berichteten tags darauf israelische Medien übereinstimmend.

Das sei "schlimmer als im Zirkus“ gewesen, schimpfte anschließend Ex-General Amos Gilad morgens im öffentlich-rechtlichen Radiosender KAN. Im Zirkus gebe es Regeln, aber "das war totale Anarchie". Benny Gantz, Ex-Armeechef und Minister im vierköpfigen "Kriegskabinett", fügte verärgert am Freitag hinzu, dass "ein solches Verhalten noch nie vorgekommen ist".

Streit in Israels Sicherheitskabinett: Was war geschehen?

Unter Leitung von Premierminister Benjamin Netanjahu sollte es am Donnerstagabend um ein einziges Thema gehen: Wie sieht der Plan Israels für den Gazastreifen nach einem Kriegsende aus? Seit Wochen drängen die US-Regierung und westliche Verbündete Israels darauf, dass Netanjahu konkret sagen solle, wie er sich eine Zukunft des palästinensischen Küstenstreifens vorstelle.

Was Washington nicht will, hatte US-Präsident Joe Biden immer wieder klargemacht: Gaza müsse von Palästinensern weiterhin bewohnt und regiert werden, von einer "reformierten" palästinensischen Autonomiebehörde. Es dürfe keine Vertreibung von Palästinensern aus dem Gazastreifen geben.

Das sehen die beiden rechtsextremen Minister im Kabinett, Ben-Gvir und Smotrich, deutlich anders – und nicht nur sie. Widerspruch erhielten sie von Premierminister Netanjahu nicht, auch nicht während der hitzigen Sitzung des Sicherheitskabinetts am Donnerstagabend.

Aus Gaza abziehen oder wieder besiedeln?

Bereits vor der Kabinettssitzung hatte sich Verteidigungsminister Yoav Galant vor die Presse gestellt und mit dieser Aussage den Zorn der zwei rechtsextremen Minister für Nationale Sicherheit, Ben-Gvir, und für Finanzen, Smotrich, hervorgerufen: Es werde keine Präsenz israelischer Zivilisten im Gazastreifen geben, nachdem die Kriegsziele Israels erreicht worden seien, gab der Verteidigungsminister zu Protokoll.

Als am späten Abend die Sitzung des Sicherheitskabinetts begann, an der auch der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, Halevi, teilnahm, wurde der Plan der Sicherheitskräfte präsentiert. Israel werde die volle militärische Handlungsfreiheit im Gazastreifen beibehalten. Eine multinationale Taskforce werde in Zusammenarbeit mit westeuropäischen Ländern und gemäßigten arabischen Staaten die Verantwortung für den Wiederaufbau des Gazastreifens übernehmen. Und, so zitiert die israelische Tageszeitung "Ma’ariv" aus der Kabinettssitzung weiter, würden Israel und Ägypten in Zusammenarbeit mit den USA kooperieren, um die Grenze des Gazastreifens zu Ägypten wirksam zu isolieren.

Israelische Siedlungen und "freiwillige Aussiedlung"

Nein, so gehe das nicht, habe Ben-Gvir widersprochen: Er werde dem Sicherheitskabinett einen detaillierten Plan für den Verbleib im Gazastreifen vorlegen, und zwar nicht nur für den Bau von israelischen Siedlungen. Diese waren 2005 mit dem einseitigen Abzug Israels aus dem Gazastreifen gegen den massiven Widerstand der extremen Rechten in Israel komplett abgebaut worden. Auch müssten Militärposten und Stützpunkte der Armee im gesamten Gazastreifen wieder errichtet werden.

Ben-Gvirs Verbündeter im Kabinett, Finanzminister Smotrich, sekundierte: Der Plan des Verteidigungsministers "für den 'Tag danach" sei eine Wiederholung des "Tages vor dem 7. Oktober". Die Lösung für den Gazastreifen erfordere einen Blick über den Tellerrand. Smotrichs Vorschlag: Die "freiwillige Auswanderung" der Palästinenser sowie die "vollständige Sicherheitskontrolle" müssten gefördert werden. Das schließe "den Wiederaufbau der Siedlungen ein". Zwei weitere Kabinettsmitglieder schlossen sich diesen Forderungen an.

Attacken auf den Generalstabschef

Zum Eklat kam es allerdings nicht im Streit über die gegensätzlichen Gaza-Pläne von Militär und rechtsextremen Ministern. Ausschlagend war vielmehr: Generalstabschef Halevi hatte angekündigt, eine eigene Untersuchungskommission ins Leben zu rufen, um aufzuklären, welche Versäumnisse der Armee zum verheerenden Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober geführt hätten. Chef der internen Untersuchungskommission solle Ex-Verteidigungsminister Mofaz werden, für die rechtsextremen Minister Ben-Gvir, Smotrich, Amsalem und Regev ein rotes Tuch. Denn Mofaz hatte 2005 als Verteidigungsminister den einseitigen Gaza-Abzug durchgeführt und gilt seitdem in Kreisen der Siedlerbewegung als Verräter an der zionistischen Sache.

Es sei zu lautstarken, heftigen Attacken an die Adresse des Armeechefs gekommen. Halevi sei "der Gewalt des Mobs" ausgesetzt gewesen sei. Der Angriff auf ihn sei persönlicher Natur gewesen, berichtete später ein Kabinettsmitglied dem Radiosender KAN. Verteidigungsminister Gallant und Minister Gantz hätten dem bedrängten Generalstabschef zur Seite springen müssen. Der Premierminister hingegen habe seinem Generalstabschef nicht den Rücken gestärkt. Vielmehr habe Netanjahu die turbulente Sitzung kurz vor Mitternacht mit dem Ratschlag an Halevi beendet: Mitunter müssten Minister auch mal ihre Meinung sagen dürfen.

Baerbock und Blinken kommen

Die deutsche Außenministerin sowie der amerikanische Chefdiplomat, die am Sonntag beziehungsweise Montag in Israel eintreffen, dürften mit recht geringen Erwartungen zu Gesprächen mit der israelischen Regierung anreisen. Annalena Baerbock ließ vor ihrer Abreise aus Berlin verlauten, es dürfe "keine Besetzung des Gazastreifens geben, keine Vertreibung (von Palästinensern) und keine Verkleinerung des Territoriums".

Dass Teile der israelischen Regierung, wie auf der Sitzung des Sicherheitskabinetts am späten Donnerstagabend nochmals deutlich wurde, diese drei Punkte genau umgekehrt für wesentlich halten, ohne dass der Premierminister ihnen widerspricht, dürfte der Außenministerin allzu bewusst sein.

Auch die US-Regierung stößt auf Widerstand

Selbst die USA, Israels wichtigster Verbündeter, werden von Premierminister Netanjahu brüskiert. So habe US-Außenminister Anthony Blinken, wie die "New York Times" berichtet, in einem Vier-Augen-Gespräch mit Netanjahu bereits im November deutlich gesagt: Israel müsse einer Reihe von Waffenpausen im Gazastreifen zustimmen, um zusätzliche humanitäre Hilfe liefern zu können und der Bevölkerung zu erlauben, aus Kampfgebieten zu fliehen. Netanjahu habe diese Forderungen abgelehnt.

Blinken habe in dem vertraulichen Gespräch erwidert, dann werde er auf einer Pressekonferenz sagen, dass die US-Regierung diese Bedingungen von Israel fordere. Netanjahu hingegen sei Blinken zuvorgekommen: Noch bevor der US-Außenminister vor die Kameras treten konnte, hatte Netanjahu ein Video ins Netz gestellt, mit der Aussage: "Ich habe Blinken gesagt: 'Wir schwören und ich schwöre, die Hamas zu eliminieren.' Nichts wird uns stoppen."

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