Frau mit T-Shirt und der Aufschrift Grundgesetz Artikel 20, Absatz 4
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Manche Demonstranten berufen sich beim Protest gegen die Einschränkung der Grundrechte in der Corona-Krise auf Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes.

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#Faktenfuchs: Wie der Begriff "Widerstand" zweckentfremdet wird

Durch die Corona-Verordnungen sind einige Grundrechte eingeschränkt. In ihrem Protest dagegen berufen sich manche auf den Widerstands-Paragraphen im Grundgesetz. Wie Artikel 20 Absatz 4 gedacht ist, und wie er interpretiert wird.

Berlin, 1. Mai 2020: Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne führen Polizisten den Dramaturgen und Publizisten Anselm Lenz ab, der ruft: "1. Mai 2020. Artikel 20, Absatz 4, Grundgesetz." In diesem Artikel steht, dass alle Deutschen "gegen jeden, der es unternimmt, die demokratische Ordnung zu beseitigen, das Recht zum Widerstand haben, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."

"Hygiene-Demos" von Berlin auf Deutschland ausgeweitet

Lenz ist Mitgründer der Protestbewegung "Demokratischer Widerstand", die seit Ende März zu "Hygiene-Demos" aufruft, auf denen dafür demonstriert wird, die Einschränkungen der Grundrechte wieder aufzuheben. Was Ende März in Berlin startete, hat inzwischen Nachahmer in mehr als 100 deutschen Städten gefunden, darunter auch München.

Lenz bezeichnet die Corona-Regelungen der Regierung auf seiner Website als den "größten und umfassendsten Angriff auf das Menschenrecht seit 1945". Diese Maßnahmen seien "verfassungswidrig und mehr noch, ein Angriff auf unsere Verfassung".

Art. 20 Abs. 4 GG stammt aus der Zeit der Notstandsgesetze

Der von Lenz zitierte Artikel 20 Absatz 4 steht seit 1968 im Grundgesetz (Art. 20 Abs. 4 GG). Er ist also nicht, wie man vermuten könnte, direkt als Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur entstanden, sondern erst knapp 20 Jahre später. 1968 beschloss der Bundestag die Notstandsgesetze, die die Handlungsfähigkeit des Staates im Katastrophen- und Verteidigungsfall sichern sollten.

Dafür wurde das Grundgesetz in mehr als 20 Punkten geändert, unter anderem dürfen seither vorübergehend auch Grundrechte eingeschränkt werden. Aus Furcht vor Missbrauch dieser Notstandsbefugnisse durch die Staatsgewalt wurde 1968 auch das Widerstandsrecht mit dem Absatz 4 des Artikels 20 ins Grundgesetz eingefügt, wie es auf der Website des Bundestages heißt.

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Bei einer Demonstration gegen die Notstandsgesetze in Frankfurt/Main im Mai 1968 wurde die Demokratie symbolisch in einem Sarg zu Grabe getragen.

Widerstandsrecht nur, wenn das Grundgesetz von Grund auf bedroht ist

Wann ist Widerstand im Sinne des Artikels 20 Absatz 4 gerechtfertigt und wann nicht? "Das Widerstandsrecht bezieht sich auf einen Angriff, der die grundgesetzliche Ordnung als solche beseitigen soll, sie also von Grund auf bedroht", schreibt Staatsrechtler Josef Isensee in seinem Beitrag "Widerstandsrecht im Grundgesetz", der im Handbuch Politische Gewalt erschienen ist. Als Beispiele nennt er Versuche, "die Alleinherrschaft einer Partei aufzurichten" oder "den Rechtsstaat dem Gesetz der Scharia" zu unterwerfen oder eine "ökologische Diktatur zu errichten".

Isensee zufolge reiche es hingegen nicht aus, dass die Legislative Grundrechte einschränkt. "Das Widerstandsrecht reagiert nicht auf einzelne Verfassungsverstöße, für die ohnehin Abhilfe bereitsteht."

So eine Abhilfe ist zum Beispiel die Möglichkeit, vor Gericht gegen eine Grundrechts-Einschränkung zu klagen. Das haben einige Bürger auch bei den Corona-Einschränkungen getan, teilweise erfolgreich: So erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof am 27. April die Verkaufsverbote für große Geschäfte für verfassungswidrig. Im Saarland kippte das Landesverfassungsgericht einen Tag später die strikten Ausgangsbeschränkungen.

Relevant könnte das im Art. 20 Abs. 4 GG gemeinte Recht auf Widerstand nach allgemeiner staatsrechtlicher Auffassung nur werden, wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch Usurpatoren beseitigt wird und sich Menschen gegen die neuen Machthaber und deren Unrechtssystem beispielsweise auch mit Gewalt zur Wehr setzen. Diese Widerstandskämpfer hätten dann nicht im rechtsfreien Raum gehandelt, sondern haben eine verfassungsrechtliche Legitimation, wenn wieder das Grundgesetz gilt.

Hartleb: "Demokratischer Widerstand" richtet sich gegen staatliche Souveränität

Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb, zu dessen Schwerpunkten die Populismus-Forschung zählt, sieht in der Berufung von Anselm Lenz vom "Demokratischen Widerstand" auf das Widerstandsrecht eine Zweckentfremdung von Art. 20 Abs. 4. "Damit unterstellt Lenz dem Staat, dass er die Verfassungsordnung außer Kraft setzt. Dieser Widerstand richtet sich gegen die staatliche Souveränität."

Das Gleiche gelte für die in diesem Jahr gegründete Partei "Widerstand2020", die von den Zielen her fast deckungsgleich mit dem "Demokratischen Widerstand" sei. "Hier stellt sich die Frage: Was ist die Kopie und was das Original?", so Hartleb. Tatsächlich werden die Partei "Widerstand2020" und die Initiative "Demokratischer Widerstand" oft verwechselt, haben aber nichts miteinander zu tun. "Widerstand 2020" wurde vor allem durch die YouTube-Videos des Arztes Bodo Schiffmann bekannt, in denen er bezweifelt, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie gerechtfertigt waren. Inzwischen ist Schiffmann wegen interner Streitigkeiten ausgetreten und hat eine neue Partei gegründet.

Rechtsextreme Identitäre Bewegung beruft sich auf Widerstandsrecht

Schon vor den Corona-Beschränkungen hat es immer wieder Versuche gegeben, ein Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 zu reklamieren. Zum Beispiel durch die rechtsextreme "Identitäre Bewegung Deutschland (IBD)", die laut hessischem Verfassungsschutzbericht 2018 "gegen Masseneinwanderung, gegen die Lüge von 'Menschheit und Weltstaat', für den Erhalt der Völker, der Wurzeln, der Herkunft und der Heimat" ist. Nach Auffassung der IBD sei "eindeutig" der Widerstandsfall nach Art. 20 Abs. 4 GG eingetreten, heißt es in dem Bericht weiter.

"Indem sich die IBD mit den Widerstandskämpfern der Weißen Rose gegen das nationalsozialistische Unrechts- und Terrorregime vergleicht und nach Art. 20 Abs. 4 GG das Widerstandsrecht für sich reklamiert, versucht sie ihr Handeln und ihre politischen Inhalte positiv zu deuten und gleichsam gesellschaftspolitisch zu legitimieren", heißt es in der Bewertung des hessischen Verfassungsschutzes. Dieses Vorgehen sei als Versuch zu werten, die eigene Ideologie als allgemein gesellschaftsfähig darzustellen.

AfD-"Flügel" rief zu Widerstand auf

Auch der inzwischen – zumindest offiziell – aufgelöste extremistische "Flügel" der AfD verwendete den Begriff "Widerstand" – in wechselndem Kontext. In der sogenannten "Erfurter Erklärung" von 2015, die als Gründungsdokument des "Flügels" gilt, heißt es, die AfD müsse die "Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands sein".

Auf dem "Kyffhäuser-Treffen" des "Flügels" rief der damalige brandenburgische AfD-Landesvorsitzende Andreas Kalbitz allgemeiner zum "Widerstand" gegen die etablierte Politik auf.

Der Verfassungsschutzbericht des Bundes 2019, den Politikwissenschaftler Hartleb schon vorab einsehen konnte, stellt fest: "In der Anhängerschaft des Flügels findet sich vermehrt eine Berufung auf ein vermeintlich legitimes Widerstandsrecht." Hartleb sagte zu BR24, dieser Gedanke eine den "Flügel" mit den Widerstandsgruppierungen.

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