Fast jeder Vierte der 81,7 Millionen Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund.
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Fast jeder Vierte der 81,7 Millionen Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund.

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#Faktenfuchs: Wer Migrationshintergrund hat und wer nicht

19 der 82 Millionen Einwohner Deutschlands (Mikrozensus 2017) haben einen Migrationshintergrund. Dass ihr Anteil an der Bevölkerung steigt, löst Diskussionen aus – auch um den Begriff. Der Faktenfuchs hat sich die deutsche Definition angeschaut.

"In deutschen Städten sieht die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen", betitelte die Neue Zürcher Zeitung kürzlich einen Artikel. In Frankfurt am Main seien gebürtige Deutsche schon nicht mehr die absolute Mehrheit. Der Artikel fand ein breites Echo. Er passte vor allem in das rechte Narrativ, dass Deutschland unter "Überfremdung" leide. Die rechtsextreme Identitäre Bewegung teilte den Artikel auf Twitter unter dem Hashtag #DerGroßeAustausch.

Aber auch diesseits des rechten Lagers entbrannte eine Diskussion über den deutschen Migrationsbegriff, vor allem über die Tatsache, dass man die Migranteneigenschaft automatisch an seine Kinder weitergibt. So schrieb die polnischstämmige ZEIT-Journalistin Alice Bota auf Twitter: "Was unschuldig als statistische Kategorie daherkommt, hat - gewollt oder ungewollt - das Zeug, auszuschließen: Nicht zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören, wird […] gar vererbt."

Migrationshintergrund ist ein statistisches Konstrukt

"Menschen mit Migrationshintergrund" – das klingt nach einer eindeutigen Kategorie. Doch zunächst einmal handelt es sich dabei um ein statistisches Konstrukt. Eine Person hat laut Statistischem Bundesamt einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist. Dazu zählen:

  1. Ausländer
  2. Eingebürgerte
  3. (Spät-)Aussiedler, die nach 1950 in die Bundesrepublik zurückkehrten. Ein bekanntes Beispiel sind die Russland-Deutschen.
  4. Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben.
  5. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder dieser vier Gruppen.

Nach dieser Definition hatten 2017 19,3 der 81,7 Millionen Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund, also 23,5 Prozent. In Bayern haben 23,8 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund, in München sind es 43,1 Prozent.

Bis 2005 wurde nur nach Deutschen und Ausländern unterschieden

Diese Definition wurde im Grundsatz 2005 eingeführt und seitdem mehrmals leicht modifiziert. Zuvor hatte das Statistische Bundesamt nur zwischen Deutschen und Ausländern unterschieden. Aufgrund der großen Zahl von (Spät-)Aussiedlern und Einbürgerungen wurde die Kategorie “Ausländer” immer unbrauchbarer, um Einwanderer und ihre Nachkommen zu beschreiben. Deswegen ersetzte das Statistische Bundesamt 2005 die Kategorisierung in Deutsche und Ausländer durch Menschen ohne und mit Migrationshintergrund. 2017 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 9,4 Millionen Ausländer in Deutschland und 9,8 Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund.

Wissenschaft untersucht Zusammenhänge zwischen Migration und Integration

In der Wissenschaft tauchte der Begriff "Migrationshintergrund" in den Neunziger Jahren in der Wissenschaft auf, war jedoch nicht einheitlich definiert. Vor allem Bildungsforscher interessierten sich für den Migrationshintergrund, weil sie der Bildung eine wichtige Rolle bei der Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft beimessen.

Gunter Brückner, Referatsleiter Ausländer- und Integrationsstatistik beim Statistischen Bundesamt, gilt als einer der Väter der deutschen Definition des Begriffes Migrationshintergrund. Zu BR24 sagte er:

"Bei der Definition haben wir Ideen von Bildungsforschern übernommen, vor allem die Entscheidung, neben den Zuwanderern, also der ersten Migranten-Generation, auch die nach deren Zuzug geborenen Kinder einzubeziehen, also die Migranten der zweiten Generation." Gunter Brückner, Statistisches Bundesamt

Erfahrungen aus klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Kanada, Australien oder Neuseeland hätten gezeigt, dass die zweite Einwanderungsgeneration einen höheren Integrationsbedarf habe als ihre Eltern, so Brückner weiter.

Migrationshintergrund wird "vererbt“

Eine deutsche Besonderheit liegt darin, dass laut Definition des Statistischen Bundesamtes die Eigenschaft "Person mit Migrationshintergrund" an die nächste Generation weitergegeben wird – und das auch, wenn nur ein Elternteil Migrant war. Die deutschen Statistiker sprechen dann von einem "einseitigen Migrationshintergrund". Die Weitervererbung des Migrationshintergrundes endet, wenn jemand mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.

Die deutsche Definition von Migrationshintergrund ist weiter als in anderen Ländern. In Österreich zählt man als Person mit Migrationshintergrund, wenn beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Eine einheitliche internationale Definition gibt es nicht, was zu dem Problem führt, dass verschiedene Migrationsstatistiken nicht vergleichbar sind. Der kleinste gemeinsame Nenner, der auch bei den Vereinten Nationen gebräuchlich ist, lautet: "im Ausland geboren."

Vertriebene zählen nicht als Migranten

Aber selbst in dieser Kategorie gibt es Spezialfälle, wie etwa die Vertriebenen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Siegermächte die Grenzen in Europa an verschiedenen Stellen neu gezogen. Das vormalige Deutsche Reich verlor zum Beispiel Ostpreußen, Pommern und Schlesien an Polen. Personen, die vor 1945 in Schlesien geboren wurden, fallen nicht unter die Kategorie "im Ausland geboren", weil Schlesien bei ihrer Geburt noch deutsch war.

Generell zählen Menschen, die vor 1950 nach Deutschland gekommen sind, nicht als Personen mit Migrationshintergrund. "Bei der Definition des Begriffes Migrationshintergrund im Jahr 2005 war es parteiübergreifend politischer Wille, die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs aus dieser Kategorie auszuklammern", sagte Gunter Brückner.

Fazit

Das Statistische Bundesamt hat 2005 die Unterteilung der Bevölkerung in Deutsche und Ausländer geändert: Seitdem ist von Menschen mit und von Menschen ohne Migrationshintergrund die Rede. Ausländer bilden neben Eingebürgerten, Aussiedlern und Adoptierten die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund. Auch die Kinder dieser vier Gruppen zählen dazu. Nicht erfasst sind hingegen Vertriebene und ihre Nachkommen. Diese Entscheidung war 2005 politisch gewollt.

Hinweis:

In einer ersten Fassung des Artikels war die Zahl des Mikrozensus falsch gerundet. Wir haben das korrigiert. Danke für den Hinweis.