Männer graben auf der Suche nach Toten.
Bildrechte: BR

Männer graben auf der Suche nach Toten.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Die Toten auf der Balkanroute. Die ARD-Langzeit-Recherche

Mindestens 170 Menschen kamen seit Juli 2013 auf der sogenannten Balkanroute ums Leben. Das ARD-Studio Südosteuropa hat bis März 2019 mehr als zwei Jahre lang Informationen über Todesfälle entlang der sogenannten Balkanroute gesammelt.

Vor Ort haben wir mit Zeugen, Angehörigen, Staatsanwälten, Vertretern von Polizei und Ministerien gesprochen. Die Schicksale zeigen: Es hängt weitgehend vom Zufall ab, ob Todesfälle aufgeklärt und Angehörige gefunden und informiert werden. Sicher ist: Behörden, Polizei und Politiker fühlten sich nicht ausreichend verantwortlich und die Menschenwürde der Toten und ihrer Angehörigen wurden verletzt. Zwischen dem 20. März und dem 25. März 2019 erzählten wir diese Geschichten.

Wie viele Menschen starben auf der „Balkanroute“?

Wir haben zwischen Mitte 2013 bis zum März 2019 mindestens 170 Todesfälle dokumentiert, in acht Ländern, darunter fünf EU-Länder. Der jüngste Tote, den wir registriert haben, war ein sechs Wochen alter Säugling. Der Älteste war 56 Jahre alt. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weitaus höher liegen.

Wie starben die Menschen?

Sie wurden erschossen, sind erstickt, erfroren, ertrunken, wurden von Zügen überrollt und starben in Schlepperautos. Einige begingen Suizid. Kranke Menschen starben, weil sie unzureichend medizinisch versorgt wurden.

Woher stammten die Menschen?

Aus 10 Ländern: Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan, Marokko, Algerien, Somalia, Bangladesch, Nigeria.

Wo starben die Menschen?

An den Grenzen und in den Staatsgebieten von Nordmazedonien, Bulgarien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Ungarn, Slowenien und Österreich haben wir dokumentiert.

Was passierte mit den Toten?

Sofern die Toten identifiziert wurden, konnten teilweise Angehörige ermittelt werden. Entweder durch die jeweilige Botschaft oder nationale Behörden. Wenn sich die Angehörigen eine Überführung der Leiche leisten konnten oder wollten, wurden Leichname in die Herkunftsländer zurückgebracht. Nicht immer war das möglich, denn Angehörige aus Kriegsgebieten (z.B. Syrien) leben häufig selbst im Ausland. Viele Tote wurden an Ort und Stelle beerdigt. Die Bestattungskosten übernahmen oft NGOs oder islamische Gemeinden in der Region. Zuvor befanden sich die Leichname teilweise monatelang in der Gerichtsmedizin oder in der Leichenhalle eines Krankenhauses.

Wenn die Toten nicht identifiziert wurden, setzte man sie in namenlosen Gräbern bei. Für Angehörige war es dann extrem schwierig, ihre toten Familienmitglieder zu finden. Auch dann, wenn sie einen Todesort lokalisieren konnten. Zudem brauchten sie Geld und Einreisevisa und waren auf die Kooperation der Behörden angewiesen, zum Beispiel, wenn es um DNA-Proben ging. Bei unserer Recherche fanden wir zudem Fälle, in denen die Suche von Angehörigen nach ihren Familienmitgliedern von den Behörden behindert wurde.

Was ist die „Balkanroute“?

Der Begriff „Balkanroute“ hat sich vor allem durch die Flüchtlingsbewegung des Jahres 2015 eingebürgert und steht nicht für einen einzelnen Weg. 2015 etwa verlief die Route von Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn oder Kroatien bis nach Österreich. Die Anzahl der Menschen auf der „Balkanroute“ ist seitdem deutlich zurückgegangen. 2018 verlief die Route im Wesentlichen über Bosnien und Herzegowina nach Kroatien und damit in die EU.

Wie fanden wir die Toten?

Die ersten Hinweise fanden wir vor allem in Berichten lokaler Medien. Vor Ort erhielten wir dann Informationen von der Staatsanwaltschaft, der Polizei, Krankenhäusern, muslimischen Gemeinden und Nichtregierungsorganisationen. Eine besonders wertvolle Quelle waren Zeugen, die Kenntnisse über die Todesfälle hatten. Im Zuge der Recherchen stellte sich heraus, dass die Namen der Toten und die Fundorte der Leichen nicht stimmten oder zum Teil nicht übereinstimmten. Bei Verkehrsunfällen haben wir auf mehr Informationen von Staatsanwaltschaften und Polizei zurückgreifen können, als bei einzelnen Todesfällen im Gelände oder in Schlepperunterkünften.

Viele Hinweise auf weitere Todesfälle

Sobald wir vor Ort recherchierten, bekamen wir viele Hinweise auf weitere Todesfälle. Zum Beispiel auf islamischen Friedhöfen oder in Gesprächen mit Einheimischen, die geholfen hatten oder Zeugen waren.

Grundsätzlich sind Staaten dazu verpflichtet, jeden Todesfall auf ihrem Territorium aufzuklären. Von den Innenministerien der betroffenen Länder bekamen wir allerdings nur wenig Informationen. Entweder erklärten die Innenministerien, sie seien nicht zuständig oder sie verweisen auf die Schwierigkeit, solche Daten statistisch sauber zu erfassen. Der Grund: Die Menschen auf der Flucht hielten sich häufig ohne gültige Dokumente in den Ländern auf.