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Ein SPD-Wahlplakat wird abtransportiert

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Der Niedergang der Sozialdemokratie in Europa

20,5 Prozent - die SPD ist in der Bundestagswahl 2017 auf ein historisches Tief gefallen. Damit setzt sich auch in Deutschland ein europaweiter Trend fort. Die Sozialdemokraten verlieren in immer mehr Parlamenten an Bedeutung. Warum? Von Kai Küstner

So lange ist der Anfang des Jahrhunderts noch gar nicht her: Damals – im Jahr 2000 – waren Sozialdemokraten an der Mehrzahl der Regierungen in der EU beteiligt oder führten diese gar an. In Deutschland saß Rot-Grün sicher im Sattel. Jetzt aber halten sich - Italien mal ausgenommen - die Sozialdemokraten in gerade einmal sechs eher kleineren EU-Staaten an der Macht. Bei den französischen, niederländischen, polnischen Nachbarn haben die Wähler sie in den einstelligen Bereich und damit in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet.

"Das ist ein Hinweis darauf, dass man auch in Deutschland nicht so tun sollte, als sei das ein lästiger Betriebsunfall und in vier Jahren sieht’s wieder besser aus." Jakob von Weizsäcker, SPD-Europaabgeordneter

Gesellschaftliche Umwälzungen in Europa

Mit diesen Worten warnt der SPD-Abgeordnete im EU-Parlament, Jakob von Weizsäcker, im Interview mit dem ARD-Studio Brüssel davor, alles auf die Große Koalition zu schieben. Er sieht in Europa gesellschaftliche Umwälzungen am Werk, die auch an den Sozialdemokraten nicht spurlos vorübergehen:

"Eine Arbeiterschaft im klassischen Sinne gibt es nicht mehr. Sondern es gibt viele Gruppen von Arbeitnehmern." Jakob von Weizsäcker, SPD-Europaabgeordneter

Verflüchtigte Bündnisse

Und auch das alte Bündnis aus Arbeitern, Links-Liberalen und fortschrittlichen Intellektuellen sei zerbrochen oder habe sich in andere Parteien verflüchtigt, meint von Weizsäcker. Dafür gebe es heute eine Bevölkerungsgruppe, die der SPD-Politiker "Die Verängstigten" nennt:

"Das sind diejenigen, die sich durch Globalisierung, durch Migrationsströme, durch technologische Entwicklung in ihrer Existenz bedroht sehen. Das sind eigentlich klassisch sozial-demokratische Wähler." Jakob von Weizsäcker, SPD-Europaabgeordneter

Stammwähler fühlen sich von Partei verraten

Die aber derzeit ihr Kreuz eben, gibt auch von Weizsäcker zu, bei der AfD machten. Politik-Experten weisen darauf hin, dass Teile der traditionell sozialdemokratischen Wählerschaft sich von der Partei gar verraten und vor der schwer zu bändigenden Globalisierung nicht in Schutz genommen fühlten: Ein Bauarbeiter konkurriere heute nicht mehr nur mit dem Kollegen eine Straße weiter, sondern im Zweifel auch mit Menschen aus Bulgarien oder Bangladesch.

Die Agenda ist nicht schuld

Was der thüringische Sozialdemokrat von Weizsäcker ablehnt, ist eine Diskussion über Kanzler Schröders Agenda 2010 oder auch Toni Blairs New-Labour-Konzept in Großbritannien. Die hätten, so lautet ein häufiger Vorwurf, ihre Länder vielleicht fit gemacht für die Zukunft, aber damit ihre Anhängerschaft gespalten. Weizsäcker sieht eine ganz andere Spaltung in Europa. Eine neue Kluft.

Spaltung in Europa

Da seien auf der einen Seite die Ultramobilen, gut ausgebildeten Arbeitsmarkt-Gewinner:

"Wenn man Montag oder Freitag Zug fährt, sieht man Zehntausende dieser Hochmobilen, die sich nicht bedroht fühlen." Jakob von Weizsäcker, SPD-Europaabgeordneter

Auf der anderen Seite aber gebe es diejenigen, die der Sozialdemokrat die "Verorteten" nennt: 

"Leute, die aufwachsen, sich ausbilden, arbeiten und in den Ruhestand eintreten in einem Umkreis von 20 bis 50 km ihres Geburtsorts. Das sind nicht immer nur die Armen. Aber das ist eine andere Weltsicht." Jakob von Weizsäcker, SPD-Europaabgeordneter

Diese neue, tiefe Kluft zwischen Sesshaften und Beweglichen gelte es künftig zu überbrücken, meint von Weizsäcker. Und sieht da sowohl die Sozialdemokraten als auch die EU in der Pflicht. Unbestritten ist jedenfalls: Je mehr Boden jene gutmachen, die den Nationalstaat als einzig wirklichen Schutzraum preisen, umso mehr geht es sowohl der Sozialdemokratie als auch der Europäischen Union an den Kragen.