Ein Erwachsener streichelt das Bein eines Neugeborenen. (Symbolbild)
Bildrechte: picture alliance/Sebastian Gollnow/dpa

Debatte um Einsatz von Cytotec in der Geburtshilfe

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Debatte um Einsatz von Cytotec in der Geburtshilfe

Seit BR und SZ berichtet haben, dass in der Geburtshilfe ein Medikament eingesetzt wird, das dafür nie zugelassen wurde, ist eine Debatte um Cytotec entstanden. Fachverbände verteidigen den Wirkstoff, räumen aber auch Probleme bei der Dosierung ein.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Der Wirkstoff Misoprostol sei nicht umstritten, sondern sehr gut untersucht – das teilten mehrere Fachverbände in einer gemeinsamen Stellungnahme als Reaktion auf die Berichterstattung von BR und SZ mit. Sie verteidigen den Einsatz von Cytotec in der Geburtshilfe. Im BR-Interview betont der Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), dass die meisten Ärzte das Medikament korrekt einsetzen und richtig aufklären würden. Aber was die richtige Dosierung anbelange, räumt Michael Abou-Dakn Probleme ein: hier bestehe eine wissenschaftliche Unsicherheit.

Studien zeigen Probleme bei der Dosierung von Cytotec

In der Tat zeigen Studien, dass es bei der Dosierung von Cytotec in der Praxis große Unterschiede zwischen Geburtskliniken gibt und dass sich Kliniken nicht immer an die empfohlene Dosis halten. Darauf geht in der aktuellen Debatte auch das Ärzteblatt ein und zitiert eine Studie der Universität Aachen aus dem Jahr 2013. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass nur 35 Prozent der Kliniken, die das Medikament zu Einleitung der Geburt anwenden, sich an die von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebenen Einzeldosis von 25 Mikrogramm halten. Diese Dosis wurde in den Fällen, die BR und SZ vorliegen, um das Doppelte bis Vierfache überschritten.

Mehr Sicherheit in der Dosierung könnte die neue Leitlinie bringen, an der die Fachgesellschaft derzeit arbeite, erklärt Michael Abou-Dakn. "Die Unsicherheiten, die muss man angehen, indem man die Medikation vorgibt, so wie wir das tun", so Abou-Dakn im BR-Interview. "Wir können als Fachgesellschaft nur sagen, bitte dosiert das in dieser Form, alles andere kann zu einer erhöhten Nebenwirkungsrate führen."

Nicht alle Kliniken nutzen Cytotec

BR und SZ hatten im Rahmen der Recherchen bei 20 großen Geburtskliniken bundesweit angefragt, ob und wie sie Cytotec einsetzen. Einige Kliniken haben die Fragen über Wochen gar nicht oder nur sehr bruchstückhaft beantwortet. Zwei Kliniken schrieben, dass sie Cytotec gar nicht verwenden. Zum Beispiel das Klinikum Ingolstadt: "Cytotec wird im Klinikum Ingolstadt zur Geburtseinleitung nicht eingesetzt. Zur Einleitung werden unterschiedliche vaginale Prostaglandin-Präparate angewendet, mit denen gute Erfahrungen gemacht wurden, und die für die Geburtseinleitung zugelassen sind."

Kritik: Keine Kosten-Nutzen-Abschätzung des Medikaments möglich

Cytotec ist für die Geburtseinleitung in Deutschland nicht zugelassen, es wird im sogenannten Off-Label-Use eingesetzt. Die Recherchen von BR und SZ hatten gezeigt, dass es zu schwerwiegenden Komplikationen kommen kann – in seltenen Fällen kamen Kinder mit Gehirnschäden zur Welt oder starben bei der Geburt.

Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist das Ausmaß der Probleme im Zusammenhang mit Cytotec nach Recherchen von BR und SZ nicht bekannt. Auch, weil Ärzte nicht gesetzlich verpflichtet sind, Komplikationen zu melden. Das Schlimmste an der ganzen Geschichte sei, dass das Bundesinstitut so nicht einmal in der Lage sei, eine Kosten-Nutzen-Abschätzung des Medikaments vorzunehmen, sagt der Pharmakologe und Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske von der Universität Bremen. "Wenn man zu wenig meldet und dem BfArM keine Chance bietet, eine Basis für Entscheidungen vorliegen zu haben, dann geschieht genau das, was jetzt passiert ist“, erklärt er im BR-Interview. "Offensichtlich sind schwere Zwischenfälle, schwerwiegende Nebenwirkungen geschehen. Und das hat mich besonders wütend gemacht, dass Ärzte solche schwerwiegenden Ereignisse nicht gemeldet haben.“

Zahlreiche Reaktionen von Frauen

Seit BR und SZ Anfang der Woche begonnen haben, über die Komplikationen zu berichten, die beim Einsatz von Cytotec in der Geburtshilfe auftreten können, diskutieren tausende Frauen in den sozialen Netzwerken. Viele sind verunsichert, schildern ihre Erfahrungen mit dem Medikament.

Auch Annemarie, über deren Fall berichtet wurde, verfolgt die Debatte. Ihr Sohn wurde einem Gutachten zufolge bei der Geburt mit zu wenig Sauerstoff versorgt, heute ist er geistig und körperlich schwer beeinträchtigt. Annemarie ist überzeugt, dass es damit zu tun hat, dass sie Cytotec zur Einleitung bekommen hat und verklagt die Geburtsklinik. Sie hat sich inzwischen mit anderen Frauen zusammengetan, denn "diese ganzen bedauerlichen Einzelfälle, von denen es sicher noch sehr, sehr viele gibt, die jetzt erst aufwachen – wir wollen, dass das endlich aufhört.“

Viele Frauen schreiben, dass sie hoffen, es ändere sich etwas. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat angekündigt, sich das Thema Cytotec in der Geburtshilfe anzusehen.

"Darüber spricht Bayern": Der neue BR24-Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!