Schild mit der Aufschrift "Stop Genocide" bei einer Pro-Palästina-Demo im polnischen Krakau am 12.11.23
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Schild mit der Aufschrift "Stop Genocide" bei einer Pro-Palästina-Demo im polnischen Krakau am 12. November 2023

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Das "Verbrechen der Verbrechen": Was ist ein Genozid?

Ob auf Pro-Palästina-Demos oder mit Blick auf die Gräueltaten der Hamas-Terroristen in Israel: Die Wörter Genozid oder Völkermord sind derzeit weit verbreitet. Was genau sich hinter diesem Straftatbestand aus dem Völkerrecht verbirgt – ein Überblick.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Ein Genozid gilt als das "Verbrechen der Verbrechen" – und dieser Begriff ist aktuell oft zu hören. Viele werfen der islamistischen Terrororganisation Hamas vor, einen Genozid an Jüdinnen und Juden zu versuchen. Umgekehrt gibt es den Vorwurf an Israel, der Krieg in Israel und Gaza sei ein Genozid am palästinensischen Volk. Was genau verbirgt sich hinter dem Wort? Die wichtigsten Antworten.

Wie ist ein Genozid definiert?

Was ein Genozid oder Völkermord ist, regelt das internationale Völkerrecht. In Deutschland findet sich die Definition in Paragraf 6 des Völkerstrafgesetzbuchs. Darin wird ein Völkermord definiert als die "Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".

Das Gesetz listet mehrere Handlungen auf, wie Menschen in dieser zerstörerischen Absicht handeln können. Erstens: indem man ein Mitglied der Gruppe tötet. Zweitens: indem man einem Mitglied "schwere körperliche oder seelische Schäden" zufügt. Drittens: indem man die Gruppe "unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen". Viertens: mit Maßnahmen, "die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen". Fünftens: indem man "ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt".

Schon das Töten eines einzelnen Menschen kann also ein genozidaler Akt sein - eben dann, wenn dahinter die Absicht steht, eine bestimmte Gruppe zu zerstören. Diese Absicht macht aus einem Mord oder Kriegsverbrechen einen Akt des Völkermords. Im englischen Sprachgebrauch gilt ein Völkermord als "crime of crimes", also als "Verbrechen der Verbrechen".

Ist ein Genozid strafbar?

Völkermord verjährt nicht. Ein Völkermord oder Genozid ist im Völkerstrafrecht ein Straftatbestand. Geregelt ist das in der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen. Das heißt: Wer diese Konvention unterschrieben hat, verpflichtet sich, Völkermorde zu verhindern und zu bestrafen. 153 Staaten haben die Konvention ratifiziert - auch Israel im Jahr 1950. Der (nicht von allen Ländern weltweit anerkannte) Staat Palästina ist 2014 beigetreten.

Paragraf 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs legt fest: Auf Völkermord steht lebenslange Freiheitsstrafe. In minder schweren Fällen muss die Freiheitsstrafe mindestens bei fünf Jahren liegen – die Tötung eines Menschen mit Völkermord-Absicht kann ausdrücklich nicht zu diesen minder schweren Fällen gehören, muss also immer mit lebenslanger Haft bestraft werden.

"Eine Anklage wegen Völkermords kann sowohl vor einem deutschen Gericht als auch vor einem internationalen Gericht landen", erläutert Markus Beham. Er lehrt als Jurist an der Universität Passau, sein Schwerpunkt liegt auf dem Völkerrecht. Wo der mögliche Völkermord passiert sei, ist laut Beham dabei nicht entscheidend.

Woher kommt der Begriff Genozid historisch?

Die Völkermord-Konvention entstand nach dem Zweiten Weltkrieg auf Betreiben der Vereinten Nationen – als Reaktion auf den Holocaust, die millionenfache Ermordung von Jüdinnen und Juden durch die Nazis. Die Konvention trat im Januar 1951 in Kraft. Ein genaues Strafmaß gibt sie nicht vor.

Geprägt hat den Begriff "Genozid" der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin. Die meisten seiner Angehörigen wurden von den Nazis umgebracht. Lemkin flüchtete über Umwege in die USA, wo er als Jurist und Aktivist für die Anerkennung des neuen Tatbestands arbeitete. Um die systematische Vernichtung von Jüdinnen und Juden zu beschreiben, verwendete er das Wort "Genozid". Lemkin argumentierte, Formulierungen wie "Gräueltaten" oder "Massenmord" erfassten nicht alle Dimensionen der Nazi-Taten.

Schon lange ist das Wort "Genozid" Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Die Herausforderung liegt laut Völkerrechtler Beham von der Universität Passau in dessen Verwendung: "Genozid ist schon lange auch ein politischer Kampfbegriff, um Aufmerksamkeit zu generieren." Generell seien andere Tatbestände wie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit juristisch leichter zu fassen, weil man hier keinen besonderen Vorsatz zur Vernichtung einer Gruppe nachweisen müsse.

Wer wirft Israel einen Genozid vor?

Die Terrororganisation Hamas, die den Gazastreifen beherrscht, wirft Israel schon lange einen Genozid an den Palästinensern in dem schmalen Küstengebiet vor. Bei israelischen Luftangriffen – in der Regel nachdem davor Raketen aus Gaza nach Israel geschossen wurden – sterben immer wieder auch palästinensische Zivilisten. Das liegt Beobachtern zufolge nicht zuletzt daran, dass die Hamas gezielt Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Seit Israel als Reaktion auf den Hamas-Terror am 7. Oktober mit der Luftwaffe und Bodentruppen im Gazastreifen kämpft, erheben wieder viele Menschen den Genozid-Vorwurf. So wirft etwa Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der im Gazastreifen keine Rolle spielt, Israel einen "Krieg gegen die Existenz der Palästinenser" vor. Abbas spricht von einem Genozid, der sich vor den Augen der Welt abspiele.

Ähnlich äußern sich die Staatschefs anderer muslimisch geprägter Staaten, zum Beispiel schon vor Jahren der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Auch die Parteiführung der brasilianischen Regierungspartei PT von Präsident Lula wirft Israel aktuell vor, durch eine "Vielzahl von Kriegsverbrechen einen Genozid" an den Palästinensern zu begehen.

Wer wirft der Hamas einen Genozid vor?

Diverse Völkerrechtler weisen darauf hin, dass Hamas-Terroristen bei ihren Massakern am 7. Oktober auf israelischem Boden gezielt Zivilistinnen und Zivilisten getötet haben. Die Hamas hatte bei ihrem Überfall demnach die Absicht, möglichst viele Jüdinnen und Juden zu töten.

Das betont auch Markus Beham von der Uni Passau: "Es ist Teil der Hamas-Ideologie, den Staat Israel nicht anzuerkennen und dessen Vernichtung anzustreben. Insofern wäre es denkbar, dass ein Gericht einen oder mehrere Hamas-Terroristen eines Tages wegen Völkermords anklagt."

15.11.2023, Palästinensische Gebiete, Rafah: Palästinenser nehmen die Zerstörungen nach israelischen Angriffen auf Rafah in Augenschein. Foto: Hatem Ali/AP +++ dpa-Bildfunk +++
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BR24live: Eure Fragen zum Krieg in Israel und Gaza

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