Anfang September: Ein ukrainischer Soldat blickt in der Region um Bachmut aus einem Schützengraben.
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Ein ukrainischer Soldat blickt in der Region um Bachmut aus einem Schützengraben. 04. September 2023

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Das Ende des Anfangs? Ukrainische Fortschritte im Süden

Die ukrainische Gegenoffensive geht in den vierten Monat. Es mehren sich Anzeichen, dass die Streitkräfte im Süden die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen haben. Sie gewännen langsam an Boden, sagt Nato-Generalsekretär Stoltenberg.

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Großbritanniens Kriegspremierminister Winston Churchill prägte im November 1942 den Satz, der auf die aktuelle Lage der ukrainischen Gegenoffensive angewendet werden könnte: Er wolle nicht vom Ende des Kriegs sprechen, so Churchill mehr als drei Jahre nach Beginn des Eroberungs- und Vernichtungsfeldzugs Hitlers, nicht einmal vom Anfang des Endes. "Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs." Gemeint hatte Churchill damit, dass man noch nicht von der Wende im Kriegsgeschehen sprechen könne, aber von einem ersten, erkennbaren Zeichen, dass nun die schwersten Hindernisse auf dem Weg zu einem Sieg ausgeräumt worden seien.

Bei aller historischen Unvergleichbarkeit: Mit ähnlichen Worten melden sich nunmehr auch westliche Verbündete der Ukraine zu Wort, wenn sie den derzeitigen Stand der ukrainischen Gegenoffensive beschreiben. Nach drei Monaten sei ein Ende des äußerst schwierig verlaufenen Anfangs der Gegenoffensive zu erkennen.

Verteidigungslinie durchbrochen

So gab Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag die Lageeinschätzung ab, die sich mit den Erklärungen westlicher Militärexperten deckt: Es seien schwere, schwierige Kämpfe, aber die ukrainischen Streitkräfte seien in der Lage gewesen, "die Verteidigungslinien der russischen Streitkräfte zu durchbrechen." Und, so fügte Jens Stoltenberg hinzu, "sie rücken vor". Die Fortschritte der ukrainischen Gegenoffensive seien "sehr, sehr ermutigend", erklärte auch US-Außenminister Anthony Blinken bei seinem Besuch in Kiew.

Diese Aussagen des Nato-Generalsekretärs und des amerikanischen Chefdiplomaten beziehen sich vor allem auf den Frontabschnitt im Südwesten des Oblasts Saporischschja. Dort, wo die ukrainischen Einheiten nach langen, verlustreichen drei Monaten an einer Stelle die erste russische Verteidigungslinie überwunden haben. Bereits vor einigen Tagen konnten anhand von Geodaten und Satellitenbildern die ukrainischen Meldungen bestätigt werden, dass die ukrainischen Streitkräfte das Dorf Robotyne zurückerobert haben.

Karte: Die militärische Lage in der Ukraine

"Taktische Aufgabe"

Robotyne liegt rund 15 Kilometer südöstlich vom Ausgangspunkt der Gegenoffensive in diesem Abschnitt, von Orichiw. Auch die russischen Besatzungstruppen räumten in dieser Woche ein, dass sie Robotyne aufgeben mussten. Es habe sich um eine "taktische Aufgabe" gehandelt, meldete das russische Medienportal RBC. Mittlerweile bewegten sich die ukrainischen Truppen weiter zu dem nächsten, weiter südöstlich gelegenen Dorf Nowoprokopiwka. Genau an dieser Stelle haben die Einheiten die sogenannte erste Verteidigungslinie der russischen Streitkräfte durchbrochen. Allerdings ist der Begriff "Verteidigungslinie" vieldeutig.

Was heißt Verteidigungslinie?

Über eine Länge von insgesamt 800 Kilometern haben die russischen Angreifer seit dem Spätherbst letzten Jahres ein mehrschichtiges Geflecht von Verteidigungsstellungen ausgebaut. Wie es die "Neue Zürcher Zeitung" zutreffend beschreibt: "Es besteht aus Minenfeldern, Panzersperren, Schützengräben und einer Wiederholung dieser Elemente mehrere Kilometer weiter im Hinterland." Beim weiteren Vorrücken in Richtung der Stadt Tokmak, die als logistischer Verkehrsknotenpunkt für die Versorgung der russischen Angriffsstreitkräfte gilt, müssen die ukrainischen Streitkräfte erneut schwer ausgebaute Verteidigungsstellungen überwinden. Allein die kilometerlangen Panzersperren sind mit breiten, tiefen Gräben und zackenförmigen Betonblöcken gesichert.

Bislang seien die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive in dieser Region nur mit Infanterie- und Artillerie-Einheiten vorgegangen. Zu verlustreich seien die Vorstöße mit den neuen, vom Westen gelieferten Panzerverbänden während der ersten Juni-Wochen gewesen. Ihnen hätten die russischen Besatzungstruppen in den dichten Minenfeldern und ohne nennenswerte ukrainische Luftunterstützung erhebliche Verluste zugefügt. Präsident Wolodymyr Selenskyj, der schon oftmals aufkeimende Kritik an dem äußerst schwierigen Vorrücken seiner Streitkräfte zurückgewiesen hat, erklärte in diesen Tagen erneut: "Egal, was andere sagen: Wir kommen voran und das ist das Allerwichtigste."

"Menschen sind nicht entbehrlich"

Beim weiteren Fortgang der ukrainischen Gegenoffensive kommt es nach Einschätzung westlicher Militärbeobachter inzwischen nicht mehr allein auf die reinen Geländegewinne an, so entscheidend diese auch sind. Vielmehr stellen sie die Frage: Hat die Ukraine nach einem erfolgreichen Vorstoß etwa bis Tokmak oder gar weiter südlich in Richtung des Azoischen Meeres ausreichend Soldaten, um die Offensive fortsetzen zu können? Oder, wie der deutsche Militärexperte Nico Lange im NDR Podcast "Streitkräfte und Strategien" formuliert: "Wie viele Reserven hat die Ukraine dann noch, um aus diesen Durchbrüchen etwas zu machen?"

Bei der Amtseinführung des neuen ukrainischen Verteidigungsministers Rustem Umjerov am Donnerstag hob Präsident Selenskyj den hohen Stellenwert hervor, den das Leben der ukrainischen Soldaten habe: "Wir müssen eine neue Philosophie in der Haltung gegenüber den Soldaten der Ukraine haben: Menschen sind nicht entbehrlich." In den vergangenen Tagen hatte sich Selenskyj an europäische Staaten gewandt, in denen sich geflohene Ukrainer im wehrpflichtigen Alter aufhalten. Diese Männer sollten zurück in die Ukraine ausgewiesen werden. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Frage der weiteren Mobilisierung von Soldaten für die Ukraine immer dringlicher wird.

Dieser Artikel ist erstmals am 7. September 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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