14.03.2022, Türkei, Ankara: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), kommt am Flughafen in Ankara an.
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Michael Kappeler

14.03.2022, Türkei, Ankara: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), kommt am Flughafen in Ankara an.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

100 Tage Olaf Scholz: Von Krise zu Krieg

100 Tage ist der Bundeskanzler im Amt. Es sind mit Sicherheit die intensivsten ersten 100 Tage, die je ein Kanzler hinter sich bringen musste. Von der Corona-Krise über die Klima-Krise zum Ukraine-Krieg: Krisenmodus ist der Modus von Olaf Scholz.

Ob er sich die ersten Tage und Wochen in diesem Amt so vorgestellt hat, als er bedächtig und angeleitet von der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas an jenem 8. Dezember 2021 im Bundestag zu seiner Vereidigung schreitet? Ruhig, wenn auch leicht nervös, spricht Olaf Scholz den Amtseid:

"Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des dt. Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben werde."

Die Bundestagspräsidentin dankt Scholz und wünscht ihm viel Glück für seine Aufgabe. Er wird es brauchen.

Scholz: "Schwer, den Mut nicht zu verlieren"

Seit Tag eins sind der Kanzler und seine neue Ampelkoalition im Krisenmodus. Corona wütet in der nächsten neuen Variante, bereits einen Tag nach der Vereidigung kommt Scholz mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder zusammen. Ein langsames Ankommen im Amt: unrealistisch, unmöglich.

Scholz macht im Prinzip dort weiter, wo Merkel aufgehört hat: beim Corona-Krisenmanagement. "In diesen Tagen fällt es manchmal schwer, den Mut nicht zu verlieren", sagt er in seiner ersten Regierungserklärung im Deutschen Bundestag, er meint Corona, und was es mit den Menschen macht. Und dennoch klingt es im Rückblick wie eine düstere Prognose dessen, was noch kommen wird.

An diesem 15. Dezember möchte der Kanzler jedoch vor allem sein Versprechen vom ökologischen, gesellschaftlichen Aufbruch ausbreiten. Scholz spricht von Respekt, von der solidarischen Gesellschaft, vom gemeinsamen Erfolg. Noch aber klingt er, als lese er den Koalitionsvertrag vor.

Zum ersten Mal als Bundeskanzler auf internationaler Bühne

Bei seinen ersten Antrittsbesuchen als Bundeskanzler in Paris und Brüssel merkt man, da sucht einer seine Rolle auf dem internationalen Parkett. Nur nichts falsch machen neben dem flamboyanten französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, der den "lieben Olaf" im prunkvollen Elysée-Palast begrüßt, oder dem hochgewachsenen Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel, den Scholz noch aus deren Zeiten als Finanzminister gut kennt.

Er hat sie zwar alle schon getroffen, Nato-Generalsekretär Stoltenberg, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, EU-Ratspräsident Michel – allerdings in anderer Funktion. Scholz wirkt noch steifer als sonst auf den Pressekonferenzen, fast verloren. Merkels Fußstapfen erscheinen in diesen Momenten riesig.

Herzensprojekte von Scholz und Koalition

Im Inland werden Gesetze vorangetrieben, allen voran des Kanzlers Lieblingsprojekt, das er im Wahlkampf wie ein Mantra vor sich hergetragen hatte, nämlich den Mindestlohn auf zwölf Euro zu erhöhen.

Aber auch gesellschaftlich relevante Projekte wie die Abschaffung des umstrittenen Paragrafen 219a, das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen, ein Herzensprojekt der Ampelkoalition. Es läuft einigermaßen rund. Auch wenn der Kanzler eher im Hintergrund agiert und die Impfpflicht schon ihr spalterisches Potential erkennen lässt. Scholz ist dafür. Und will den Bundestag frei darüber entscheiden lassen. Ein Trick, und der Versuch, potenzielle Risse innerhalb der Ampel klein zu halten.

Es ist ein Scholzsches Manöver, frontale Konflikte möglichst leise zu umschiffen. Er mag es bei Merkel abgeschaut haben.

Die größte Herausforderung: Der Ukraine-Krieg

Unterdessen braut sich im Osten Europas etwas zusammen, was die Politik dieses Kanzlers von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellen wird; Krisenkanzler war Scholz bis zum 23. Februar. Am Morgen des folgenden Tages muss er wie die ganze Welt einem Krieg ins Auge blicken: "Dieser 24. Februar ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein düsterer Tag für ganz Europa", sagt Scholz an jenem Tag.

Er steht vor der blauen Wand im Kanzleramt, die hektische Krisendiplomatie der vergangenen Tage und Wochen, die Reise nach Moskau, die Telefonate mit Macron, Biden, Putin: Vergeblich.

  • Aktuelle Entwicklungen im russischen Krieg gegen die Ukraine im News-Ticker

Neue Einsichten und Erkenntnisse: Putin ist unberechenbar

Scholz wird später sagen, er ahnte, was kommen würde, nach seinem Gespräch mit dem russischen Präsidenten, dessen stundenlanger Ausführungen über die Rolle Russlands in der Welt und die Rolle der Ukraine er im Kreml lauschen durfte an diesem absurd langen weißen Tisch.

Bis zuletzt hatte der Kanzler auf die Macht der Diplomatie, die Kraft der Sprache und des Dialogs gehofft. Dass Wladimir Putin zu erreichen wäre, abzuschrecken durch Sanktionen, vergebens. Wandel durch Annäherung, Wandel durch Wirtschaft, Wandel durch Handel. Jahrzehnte sozialdemokratischer Ostpolitik, von Brandt über Schröder zu Scholz: zerstört, buchstäblich zerbombt. Auch Scholz muss einsehen, dass seine Einschätzung von Putin falsch war, er verabschiedet sich auch von der umstrittenen Gas-Pipeline Nord Stream 2, an der er lange festgehalten hatte.

Vom Krisenkanzler zum Kanzler der Zeitenwende

Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin ohnehin sämtliche Gewissheiten geschreddert. Olaf Scholz hat keine Wahl – er muss spätestens jetzt alles Merkelige, Moderierende abstreifen. Er muss auch nach außen hin Führung zeigen. In einer Fernsehansprache an die Nation stimmt er die Menschen in Deutschland auf diesen neuen Kanzler ein. "Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir sind entschlossen und handeln geschlossen, darin liegt unsere Stärke als freie Demokratien."

Nur wenige Tage später, an einem Sonntag, kommt der Bundestag zusammen, es ist ein historischer Tag, mit einer historischen Rede des Kanzlers, deren Quintessenz lautet: "Wir erleben eine Zeitenwende, und das bedeutet, die Welt danach ist nicht mehr wie die Welt davor."

Bedeutet das auch: Der Kanzler ist ein anderer, seine Partei, alte Gewissheiten? Jedenfalls hören erstaunte Koalitionspartner, erstaunte Abgeordnete aus der SPD-Fraktion erstaunliche Summen, erstaunliche Ansagen über 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr und das Versprechen, man werde von nun an mehr als 2% des BIP in die Verteidigung investieren.

Eine andere Welt und eine andere Politik?

Es gehört zu den Besonderheiten und den Merkwürdigkeiten dieses Tages, dass die Abgeordneten der Union besonders laut klatschen und jubeln, als Olaf Scholz über den Anstieg der Militärausgaben spricht – 16 Jahre lang hatte die Union im Verteidigungsministerium das Zepter geführt. Die Zeiten ändern sich. Jetzt liefert eine SPD-geführte Bundesregierung Waffen in ein Kriegsgebiet.

Eine andere Welt bedeute eine andere Politik, wird es der grüne Koalitionspartner später zusammenfassen. Diese Kanzlerschaft, die für Olaf Scholz so bedächtig begonnen hat, hat nach nicht einmal 100 Tagen eine scharfe Kurve genommen. Scholz muss die Ampel zusammenhalten. Führung ist gefragt, das Managen von Geflüchteten, von Kriegsfolgen: Das Leben in Deutschland wird teurer. Der Krieg führt auch vor Augen: Es ist ein kostbares Leben. Scholz, der kühle Hanseat, wird keine Atempause bekommen.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!