Impfpflicht in der Pflege
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Thomas Müller aus Veitshöchheim ist querschnittgelähmt und ist seit fast 40 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Er wird Rund um die Uhr betreut.

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Pflege ohne Ungeimpfte schwer möglich – ein Beispiel

Die geplante Impfpflicht im Gesundheitswesen soll vulnerable Gruppen schützen. Die Umsetzung aber ist vielfach ungelöst, die für Bayern angekündigte Aussetzung sehen viele soziale Träger mit Erleichterung. Ein Beispiel aus Unterfranken zeigt warum.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Mainfranken am .

"Andrej, machst du mir bitte die Bremse zu und reichst mir die Brille?" Einfach ein Buch über sein Lieblingsthema Buddhismus nehmen, die Brille aufsetzen und losschmökern – das geht bei Thomas Müller nicht. Der 55-Jährige sitzt seit einem Badeunfall 1983 querschnittgelähmt im Rollstuhl, kann den Unterkörper gar nicht und die Arme und Hände nur sehr eingeschränkt bewegen. Die Lesebrille setzt ihm deshalb sein persönlicher Assistenz-Pfleger Andrej Besik auf, kocht ihm den Tee und stellt ihm eine Tasse mit einem Strohhalm zurecht.

Rund-um-die-Uhr-Pflege mit Ungeimpften

24 Stunden am Tag wird der vom Hals abwärts fast komplett gelähmte 55-Jährige abwechselnd von drei Assistenz-Pflegern und einer weiteren Aushilfe in seiner eigenen Wohnung betreut. Drei bis vier Tage am Stück und insgesamt 10 Tage im Monat wohnen die Vollzeit-Pfleger bei Müller in seiner Wohnung.

Doch jetzt hat ihr Arbeitgeber, die Würzburger Arbeiterwohlfahrt (AWO), ein Problem. Denn zwei der Assistenzpfleger, darunter auch Besik, sind gegen Corona geimpft, der dritte Assistenzpfleger und auch eine weitere Aushilfskraft sind es nicht. Die Arbeit der anderen aufzufangen, wenn sie durch die Impfpflicht demnächst nicht mehr arbeiten dürfen, sei kaum möglich, sagt Besik. Und auch Ersatz für die ungewöhnliche und sehr individuelle Art der Pflege zu finden sei schwer.

Debatte um Aussetzen der Impfpflicht

Die Impfpflicht im Gesundheitswesen erst einmal aussetzen: Nach dieser Ankündigung Anfang der Woche musste sich der bayerische Ministerpräsident Markus Söder gestern im Landtag viel Kritik anhören. SPD, Grüne und FDP warfen ihm Allmachtsfantasien und Rechtsbruch vor.

Das Bundesverfassungsgericht hat am Vormittag einen Eilantrag gegen die Pflegeimpfpflicht abgelehnt, hat aber auf offene Fragen bei der Umsetzung hingewiesen. Genau deshalb überwiegt auch bei den sozialen Trägern in Mainfranken Erleichterung über die in Bayern geplante Verschiebung der Impfpflicht um mehrere Wochen.

Caritas: Offene Fragen klären

"Uns ist klar, dass das Aussetzen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht nur einige Wochen Aufschub bedeutet", sagt die Leiterin Soziale Dienste beim Diözesan-Caritasverband Sonja Schwab. Diese Zeit könne aber genutzt werden, um die vielen offenen Fragen zu klären. Etwa: Welche Daten der Beschäftigten landen wo im Gesundheitsamt und welche Sanktionen drohen den ungeimpften Mitarbeitern? Vieles sei noch ungeklärt. Wichtig sei außerdem, dass als zweiter Schritt die allgemeine Impfpflicht folgt, sagt die Caritasmitarbeiterin.

Lebenshilfe: Betroffene leisten wertvollen Beitrag

Auch bei der Würzburger Lebenshilfe herrscht über die Aussetzung der Pflicht Erleichterung, sagt Geschäftsführerin Martina Sponholz. Obwohl die Impfquote bei den Beschäftigten bei 95 Prozent liege und somit nur wenige Mitarbeiterinnen betroffen seien, sei die Arbeitsmarktsituation sehr angespannt.

"Die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten an wichtigen Stellen unseres Vereins und leisten einen wertvollen Beitrag. Ohne sie wäre das Aufrechterhalten einer qualitativ guten Betreuung wie auch der Ablauf der organisatorischen Tätigkeiten extrem schwierig", teilt Sponholz mit. Auch der Landesverband der Lebenshilfe hat das vorläufige Aussetzen der Impfpflicht begrüßt.

AWO: Konkrete Einschränkungen und Ausfälle absehbar

Probleme bei der konkreten Umsetzung der Pflege-Impfpflicht sieht auch die Würzburger Arbeiterwohlfahrt. Der Leiter des Marie-Juchacz-Hauses Raimund Binder befürchtet, dass bei einer Umsetzung sowohl bei einem ambulanten Pflegedienst als auch im Café des Pflegeheims der Betrieb zumindest eingeschränkt werden muss.

"Wir schweben einfach in einer völligen Planungsunsicherheit, weil wir nicht wissen, wann kommt das Betretungsverbot? Was heißt 'in ein paar Wochen'? Können wir noch den März- und Aprildienstplan wie gewohnt gestalten? Ab wann dürfen unser Mitarbeiter nicht mehr kommen?", sagt die Leiterin der ambulanten Pflege der AWO Tatjana Hemrich. Akut stünden bei der Umsetzung der Pflicht allein bei der AWO zwei ambulante Pflegetouren auf der Kippe.

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Jeder Handgriff ist über Jahre eingeübt: Thomas Müller und Andrej Bezik, einer seiner drei Assistenzpfleger

Muss Müller ins Heim?

Auch der Fall von Thomas Müller beschäftigt die AWO. Denn Ersatz für die beiden ungeimpften Mitarbeiter, die ihn derzeit pflegen, zu finden, sei kaum möglich. "Konkret würde das für ihn derzeit bedeuten, dass er ins Heim einziehen muss, weil er mit zwei Pflegekräften zu Hause seine Situation nicht stemmen kann", sagt Hemrich.

Thomas Müller möchte natürlich in seiner gewohnten Umgebung bleiben. Selbst wenn es einen Heimplatz für Menschen wie ihn gäbe, glaubt er, wäre die Vollzeitpflege dort mit examinierten Pflegern auch deutlich teurer.

Träger für allgemeine Impfpflicht

Dass Impfen grundsätzlich der entscheidende Weg aus der Pandemie ist, betonen die Sozialträger unisono. Deshalb sei auch eine allgemeine Impfpflicht der richtige Weg dorthin. "Die ganze Gesellschaft muss diese internationale Gesundheitsnotlage mittragen", sagt AWO-Mitarbeiterin Hemrich.

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