Jesiden auf der Flucht vor dem IS. (Archivbild)
Bildrechte: Reuters/Rodi Said

Jesiden auf der Flucht vor dem IS. (Archivbild)

Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

Münchner Terrorprozess: Ließ IS-Anhängerin Kind verdursten?

Ab heute steht in München eine 27-jährige mutmaßliche IS-Anhängerin vor Gericht. Sie soll dabei zugesehen haben, wie eine fünfjährige Jesidin verdurstete, die als Sklavin gehalten wurde. Aber hat sich die Tat wirklich so abgespielt?

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Die 27-jährige Deutsche Jennifer W. soll bis Anfang 2016 beim sogenannten Islamischen Staat im Irak gewesen sein. Wie tief war sie in das System der Terrorgruppe integriert? Eine Frage, die ab heute das Oberlandesgericht München beschäftigen wird.

Die Bundesanwaltschaft wirft Jennifer W. vor: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Mord aus niedrigen Beweggründen, Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Die zum Islam konvertierte Angeklagte kommt aus Niedersachsen. Weil sie aber in Bayern festgenommen wurde, findet der Prozess in München statt. Der Ehemann hält sich nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung aktuell im türkisch-irakischen Grenzgebiet auf.

Anklage: Mutmaßliche IS-Anhängerin Jennifer W. ließ Kind verdursten

Im Sommer 2015 soll Jennifer W. gemeinsam mit ihrem Mann aus einer Gruppe von Kriegsgefangenen heraus ein fünfjähriges jesidisches Mädchen gekauft haben. Nach Angaben der Bundesanwaltschaft hielten sie das Mädchen als Sklavin.

Als das Kind krank wurde und deswegen ins Bett machte, kettete der Mann das Mädchen laut Anklage draußen an und ließ es unter sengender Sonne verdursten. Die Angeschuldigte habe den Ermittlungen zufolge ihren Mann angefleht und ihn gewarnt, dass das Kind sterben werde, wenn er es so liegen lasse. Die Bundesanwaltschaft lastet der 27-Jährigen an, nichts zur Rettung des Mädchens unternommen zu haben.

Verteidiger: Frauen hatten beim IS nicht gleiche Rechte wie Männer

Was ist dran an den Mordvorwürfen gegen die Angeklagte? Ihr Anwalt Ali Aydin möchte den Gang der Hauptverhandlung abwarten. "Die Beweisaufnahme muss ergeben, ob es überhaupt der gleiche Sachverhalt ist", sagt er auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks. Auch wenn es so gewesen sein sollte wie von der Anklage geschildert, fragt sich Aydin: "Was hätte meine Mandantin machen können, um den Eintritt des Todes zu verhindern in einer von Männern dominierten Gesellschaft?"

Er merkt an, dass Frauen beim sogenannten Islamischen Staat, der inzwischen als militärisch so gut wie besiegt gilt, gegenüber Männern nicht die gleichen Rechte haben: "Wir können nicht einerseits behaupten, Frauen haben dort nichts zu melden, um im nächsten Absatz, wenn es der Anklage dient, das Gegenteil zu behaupten." Dies, so Aydin, sei widersprüchlich.

Bekannte Menschenrechtsanwältin tritt als Nebenklägerin auf

Eine Frau konnte ausfindig gemacht werden, die die Mutter der getöteten Fünfjährigen sein soll. Die deutschen Sicherheitsbehörden haben die Frau schon vernommen. Sie könnte im Laufe des Prozesses als Zeugin aussagen.

Vertreten wird die Mutter von der Berliner Strafverteidigerin Nathalie von Wistinghausen, dem Münchner Anwalt Wolfgang Bendler und der bekannten Menschenrechtsanwältin Amal Clooney. Sie ist auch Anwältin der Jesidin und Friedensnobelpreisträgerin Nadja Murad. Ob Clooney persönlich zum Prozess nach München kommt, ist bisher unklar.

Nach einer Mitteilung der Anwälte wurde auch die Mutter der Fünfjährigen von Jennifer W. und ihrem Ehemann gefangen gehalten. Sie sind davon überzeugt, dass Jennifer W. auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat wie Menschenhandel, Folter und Freiheitsberaubung. Genau diesen Tatvorwurf möchte die Bundesanwaltschaft nach einem Bericht des "Spiegel" nun ebenfalls berücksichtigen.

Jennifer W. Sittenpolizistin beim IS?

Die 27-jährige Jennifer W. hatte sich laut Anklage seit September 2014 im Irak befunden und sich dort der Terrororganisation IS angeschlossen. Der Bundesanwaltschaft zufolge war sie bewaffnet und überwachte als sogenannte Sittenpolizistin, dass andere Frauen die vom IS aufgestellten Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften einhielten. Für ihre Tätigkeit erhielt sie den Ermittlern zufolge monatlich zwischen 70 und 100 US-Dollar. Verteidiger Aydin geht nach jetzigem Stand nicht davon aus, dass seine Mandantin wirklich für die Sittenpolizei tätig war. Er habe dafür keine Anhaltspunkte.

Mutmaßliche IS-Anhängerin soll Spenden gesammelt haben

Die Angeklagte war Anfang 2016 schwanger nach Deutschland zurückgekehrt. Mehr als zwei Jahre lang war sie auf freiem Fuß. Den Sicherheitsbehörden fehlten Beweise, um sie festzunehmen.

Nach ihrer Rückkehr soll die Angeklagte weiterhin in der Dschihadisten-Szene aktiv gewesen sein. Nach Erkenntnissen der Ermittler sammelte sie als Administratorin der inzwischen geschlossenen Internetgruppe "Free our sisters" Spenden für Islamisten in Haft. Für die Sicherheitsbehörden ein Zeichen, dass Jennifer W. nie der Terrormiliz abgeschworen hat. Die Ermittler sind sich sicher, dass Jennifer W. zum IS zurückkehren wollte, seit sie wieder in Deutschland war.

Jennifer W.: FBI gab Hinweise an Bundeskriminalamt

Die Bundesanwaltschaft stützt ihre Anklage auf Aussagen in Chats, die die US-amerikanische Bundespolizei FBI an das Bundeskriminalamt übergeben hat. Eine wichtige Rolle spielt zudem auch ein Spitzel, den das FBI an die deutschen Behörden vermittelt haben soll.

Bei einem Ausreiseversuch mit ihrer Tochter, der nach Ansicht der Ermittler erneut zum IS führen sollte, wurde Jennifer W. im Sommer 2018 in Bayern festgenommen. Deutsche Sicherheitsbehörden hatten den Spitzel auf sie angesetzt, der vorgab sie mit dem Auto außer Landes bringen zu wollen. Der Wagen, in den die 27-Jährige stieg, war nach BR-Informationen verwanzt.

Der Ehemann von Jennifer W., ein Emir für Geisteraustreibung?

Während der Fahrt soll die Angeklagte dem Spitzel über ihre Zeit beim IS und den Tod des Mädchens berichtet haben. Aus ihrem Umfeld heißt es jedoch, Jennifer W. übertreibe gern, erzähle häufig Halbwahrheiten, wolle damit bei ihren Mitmenschen Eindruck machen und verstricke sich dabei in Widersprüche.

Jennifer W. soll u.a. damit geprahlt haben, ihr Ehemann habe für den IS als Emir für Geisteraustreibung gearbeitet. Andere Quellen behaupten jedoch, der Ehemann sei gar nicht IS-Mitglied gewesen. Die Terrormiliz sei deshalb dagegen gewesen, dass Jennifer W. ihn heiratete.

Wie schuldig oder wie unschuldig die 27-Jährige ist, wird der Prozess zeigen. Aktuell sind bis Ende September 21 Verhandlungstermine angesetzt.