Ein Wort verfolgt Reinhard Marx seit jenem Juni 2021, seit jenem vergeblichen Rücktrittsgesuch. Er sieht seine Kirche an einem "gewissen toten Punkt", hat er damals gesagt. Fällt die Analyse heute noch genauso aus wie vor zwei Jahren? Ja, er müsse nichts korrigieren, sagt Marx im BR-Interview.
Mit seinem Rücktritt wollte Marx ein Zeichen setzen, einen Neuanfang ermöglichen. Der Missbrauchsskandal hat die katholische Kirche in eine existenzielle Krise gestürzt. Reinhard Marx ist seit 27 Jahren Bischof. Zu spät habe er die Dimension dieses Skandals erkannt, zu spät gehandelt, zu spät auf die Opfer geschaut und aufgearbeitet. "Das hätten wir früher sehen können und anpacken können. Das glaube ich schon." Mut oder auch die Vorstellungskraft hätten gefehlt. Wörtlich spricht Marx von einem "Versäumnis".
Reinhard Marx wächst in den 50er- und 60er-Jahren in Westfalen auf. Da war die katholische Welt noch in Ordnung und noch nicht am "toten Punkt". Der Weg ins Priesteramt ist logisch, aber nicht vorgezeichnet. Marx war auch mal Schülersprecher und würde auch heute gerne öfter aus der "Blase der Kirche" ausbrechen, er hat keine Sehnsucht nach der vermeintlich "heilen Welt", als der Katholizismus noch seine unhinterfragte Stellung in der Gesellschaft innehatte. "Jeder hat Stunden der Nostalgie. Aber ich bin in meinem Kopf, glaube ich, so klar, um das für Unsinn zu halten. Die Sehnsucht nach einer früheren, heilen Welt, die es damals nicht gab und die es nicht mehr geben kann in einer offenen Gesellschaft."
Vom Konservativen zum Reformer
Reinhard Marx galt in den ersten Bischofs-Jahren in Trier als eher konservativer Vertreter seiner Zunft. Diesem Ruf verdankt er wohl auch die Versetzung 2008 in das große Erzbistum München und Freising durch Papst Benedikt XVI. Spätestens mit dem Missbrauchsskandal wird Marx offener, spricht den Reformbedarf seiner Kirche immer häufiger an. Zum Beispiel die Diskriminierung von homosexuellen Paaren. Hier wird es Zeit für eine Entschuldigungsbitte der Kirche, findet Marx.
Das größte Reformwerk von Kardinal Marx ist noch unvollendet. Als Vorsitzender der Bischofskonferenz hat er gemeinsam mit dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken den Synodalen Weg gestartet, einen Prozess, an dem am Ende echte Reformen stehen sollen. Die Beschlüsse sind gefasst: Mitspracherechte bei der Bischofswahl, Kontrolle der kirchlichen Finanzen oder eben die Segnung von homosexuellen Paaren. Nur Rom stellt sich quer. Und wird darin von konservativen Katholiken und Bischöfen aus Deutschland unterstützt. Marx spricht von einer "Illusion", zu glauben, man könne "alles in eine für immer festgelegte Lehre" pressen. "Das hat nichts mit der Realität der Kirche in den letzten zweitausend Jahren zu tun."
Marx für Kirche der zwei Geschwindigkeiten
Die Einheit mit dem Papst und Rom stellt der Kardinal aus München nicht infrage – auch wenn ihm das Kritiker immer wieder unterstellen. Aber er fordert eine Kirche der unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Zum Beispiel beim Thema Segnung von homosexuellen Paaren. "Warum sollen wir in Deutschland darauf warten, bis die gesamte Kirche in Afrika, Asien, Lateinamerika, dem auch zustimmen kann", fragt Reinhard Marx. Er selbst könne sich durchaus vorstellen, eine solche Segensfeier zu leiten.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
Newsletter abonnieren
Sie interessieren sich für Kirche, Religion, Glaube oder ethische Fragen? Dann abonnieren Sie den Newsletter der Fachredaktion Religion und Orientierung.