Eine Lehrerin unterrichtet in Gebärdensprache
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Aufwachsen mit Hörbehinderung: Individuelles Angebot ist wichtig

Deutschland soll laut einem UNO-Ausschuss Förderschulen schneller abschaffen – das ist für gehörlose und hörbehinderte Menschen nicht immer die beste Lösung. Zum internationalen Tag der Gebärdensprachen erscheinen drei Kinderfilme in Gebärdensprache.

Über dieses Thema berichtet: Sehen statt Hören am .

Marvin, acht Jahre, kommt aus der Schule nach Hause, läuft durch die Wohnung und hat viel zu erzählen: Seine neue Lehrerin heißt Frau Schumann, sie gebärde nur, nutze keine Lautsprache. Und sie sei toll. Marvin besucht die Von-Lerchenfeld-Schule in Bamberg, Förderzentrum Hören, nimmt dafür einen Schulweg von 25 Kilometern auf sich. Er trägt beidseits Cochlea-Implantate (CIs), die verbessern seine Hörleistung nicht stark - in Lautsprache kommunizieren ist für ihn deshalb immer anstrengend: Genau hinsehen, genau hinhören, sicherstellen, dass er verstanden wird, Missverständnisse klären.

Zur Einordnung: Auch geübte "Lippenleser" können nur etwa 30 Prozent der Wörter vom Mund absehen. Seine Schule, in der er mit anderen hörbehinderten und gehörlosen Kindern zusammen ist, ist daher eine Art geschützter Raum für ihn, Marvin blühe in Gemeinschaft mit gehörlosen und hörbehinderten Kindern und ihren Familien auf, meint seine Mutter. Lehrerinnen wie Frau Schumann können seine Vorbilder werden, was Sprache angeht - denn in Sachen Gebärdensprache können seine Mutter und seine Zwillingsschwester, beide hörend, ihm nicht mehr das Wasser reichen.

UN-Ausschuss fordert Inklusion statt Förderschule

Mehr als die Hälfte aller hörbehinderten Kinder in Deutschland lernt nicht mehr in Förderzentren. Damit der Unterricht für sie klappt, gibt es an Regelschulen vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten: Mikrofone, in die die Mitschüler und Mitschülerinnen sprechen, wenn die hörbehinderten Kinder CIs tragen, Gebärdensprachendolmetscher, die auch mal online zugeschaltet sind, oder besondere Sitzanordnungen. Während in den Förderzentren oft das soziale Miteinander einfacher sei, sei es dagegen an Regelschulen häufig einfacher, das richtige Lernniveau für ein Kind zu finden, berichten Eltern.

Mitte September 2023 hat nun der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen seine "abschließenden Bemerkungen" vorgelegt, nachdem Deutschlands Umsetzung der Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland geprüft wurde. Angemahnt wird darin unter anderem eine schnellere Abkehr von Förderschulen – darunter würde also auch jene Schule fallen, in die Marvin gerne geht. Die Forderung wird in der Hörbehinderten- und Gehörlosen-Community in Deutschland kritisch gesehen.

In Bayern entscheiden die Eltern

Im Bericht wird die Bundesregierung unter anderem dringend aufgefordert, die Umwandlung der Sonderbeschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in eine inklusive Beschulung in den Bundesländern zu beschleunigen. Eine Krux: Bei vielen Formen der Behinderung geht der Bericht nicht in die Tiefe, auch die deutsche Gebärdensprache wird darin so gut wie nicht erwähnt.

Nur auf eine Inklusion an Regelschulen zu setzen ist nicht ganz unumstritten. Das Bayerische Kultusministerium vertritt die Auffassung: "Wir stehen zu unseren Förderschulen als spezialisierte Lernorte für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Sie können im jeweiligen Einzelfall vorübergehend oder für einen längeren Zeitraum der bessere Lernort sein, um Teilhabe zu erreichen." Deshalb gebe man nicht vor, welcher Weg der richtige ist, so das Bayerische Kultusministerium auf eine Anfrage von BR24.

In Bayern entscheiden also die Erziehungsberechtigten, an welchem Lernort ihr Kind unterrichtet werden soll. "Selbstverständlich werden sie bei dieser Entscheidung und im weiteren Verlauf der Schullaufbahn im durchlässigen bayerischen Schulwesen beraten und begleitet, angefangen von den Schulen vor Ort, über die lokalen Inklusionsberatungsstellen an den Staatlichen Schulämtern und die regionalen Staatlichen Schulberatungsstellen bis hin zu Ansprechpartnern für Inklusion auf allen Ebenen der Schulaufsicht". Eine Abkehr von Förderschulen sei in Bayern nicht geplant.

Leben mitten in der Gesellschaft ermöglichen

Für Ottmar Miles-Paul, Sprecher der LIGA-Selbstvertretung, der Interessenvertretung von bundesweit aktiven Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen, ist vor allem entscheidend, dass eine Sonderbeschulung keinen weitere Partizipation ausschließt: "Die Exklusionskette von der Förderschule in die spezielle Werkstatt und das Wohnheim für behinderte Menschen muss endlich auch in Deutschland durch inklusive Angebote für ein Leben mittendrin in der Gesellschaft durchbrochen werden." So zitieren ihn die kobinet-Nachrichten, ein Portal für tagesaktuelle Nachrichten zur Behindertenpolitik.

Laut Bayerischem Kultusministerium wird nicht erfasst, bei wie vielen Schülerinnen und Schülern in Bayern eine Gehörlosigkeit oder eine Hörbehinderung vorliegt, aber wie viele Schülerinnen und Schüler in den einzelnen Förderschwerpunkten sonderpädagogisch gefördert wurden. Im Schuljahr 2022/2023 gab es demnach an allgemein bildenden Schulen (einschließlich Wirtschaftsschule und Wirtschaftsschule zur sonderpädagogischer Förderung) insgesamt rund 3.300 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung im Hauptförderschwerpunkt Hören. Davon besuchten rund 1.500 Schülerinnen und Schüler eine Regelschule und rund 1.800 Schülerinnen und Schüler eine Förderschule, wobei hier die meisten ein Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Hören besuchten (82 Prozent).

"Beide Welten offen halten"

Für Marvins Mutter ist klar: Sie möchte ihrem Sohn "beide Welten offenhalten". Marvins Schule, in der er in Gebärden und einer geschützten Umgebung kann, sei für ihn ein wichtiger Faktor für seine Identitätsbildung. Je älter ihr Sohn wird, desto deutlicher sieht sie, dass er aufblüht, wenn er sich in der Gemeinschaft von anderen gehörlosen oder hörbehinderten Menschen aufhält. Bei Ausflügen mit anderen Familien aus Marvins Schule seien inzwischen sie und Marvins Zwillingsschwester manchmal eher ausgeschlossen, wenn sie die Gebärden der anderen nicht mehr verstehen können.

Dann kehrt sich um, was für Marvin sonst anstrengend ist: Sich genau verständlich machen, Missverständnisse auflösen, manchmal einfach gar nichts verstehen oder gar nicht verstanden werden. Sie hofft, dass er, etwa über seine Implantate, weiter Zugang zum hörenden Freundeskreis seiner Schwester oder auch zu den Kindern aus der Nachbarschaft hat. Hier erlebt sie eines: Kinder, die in eine Schule mit Inklusionsmodell gingen, seien immer einfühlsamer und offener.

Medienangebote für gehörlose und hörbehinderte Kinder

Um nach der Schule abzuschalten, die vielen Umgebungsreize auszublenden, darf Marvin manchmal auch sein Tablet nutzen. Er hört darüber Musik – die sich für ihn wegen des Implantats anders anhört als für Normalhörende - spielt lustige Kinderspiele oder sieht auch Filme, die auch seine Schwester sieht. Immer lieber, inzwischen vielleicht am liebsten, kommuniziert Marvin über die Deutsche Gebärdensprache. Gute Angebote in der DGS kannte seine Mutter für ihn vor allem, als er noch kleiner war.

Die Schwierigkeit bei Medienangeboten, die sich für die Welt der hörbehinderten Menschen öffnen wollen: Dolmetschereinblendungen und Untertitelungen sind Übersetzungen – mehr aber nicht. Und da gehörlose Kinder – ebenso wie hörende Kinder – im Grundschulalter noch keine ausreichende Lesekompetenz haben, helfen ihnen Untertitel nicht. Journalistische Kinderangebote gibt es etwa bei Sehen statt Hören, der einzigen Sendung im deutschsprachigen Raum, die journalistische Fernsehangebote in Gebärdensprache aus der Welt der Gehörlosen bietet.

Jason und die Haustiere: Held und Sprachvorbild für Kinder

Ein kleines Novum sind nun drei neue Folgen einer Wissenssendung über Tiere, die zum Tag der Gehörlosigkeit am 24. September und zum internationalen Tag der Gebärdensprachen am 23. September in der ARD Mediathek veröffentlicht werden: In "Jason und die Haustiere" ist der gehörlose Moderator Jason auch Held und (Sprach-)Vorbild – in den Folgen geht es um Tiere, aber nebenbei wird auch gezeigt: Da sind Leute, die ihre Traumjobs ausüben, studiert haben, breites Wissen über Tiere weitergeben können – und das ist nicht nur ein Signal an gehörlose Kinder. Das soll vor allem eine Botschaft an hörende Zuschauerinnen und Zuschauer sein: Gehörlose können alles, außer hören.

In der ARD Mediathek unter "Wilde Tierwelt" jetzt "Jason und die Haustiere": Die Gebärdensprache ist damit in einem Kanal zu sehen, die von Kindern der hörenden Mehrheitsgesellschaft ausgewählt werden. Dabei sind die Folgen von "Jason und die Haustiere" ebenso aufgebaut wie alle Anna-Folgen: kindgerecht formuliert und strukturiert, akribisch recherchiert und kurzweilig. Jason geht – wie Anna – ganz nah ran. Auf den Quarter Horses lernt Jason in der ersten Folge reiten und kuschelt mit niedlichen Fohlen. Die riesigen Nashornkäfer lässt er sich in der zweiten Folge auf die Hand setzen und verliert zusehens seine Scheu vor den Krabblern. Und in der letzten Folge lässt sich Jason von der schlauen Assistenzhündin Davina begeistern.

Im KiKA am Sonntag, 24. September 2023, ab 15.50 Uhr, alle drei Folgen am Stück. Im BR Fernsehen am Samstag, 30. September 2023 um 9.00 Porträt Jason Giuranna und am Samstag, 7. Oktober 2023 ab 9.00 Uhr: "Quarter Horse" und "Käfer", am 14. Oktober 2023, 9.00 Uhr "Assistenzhund".

Im Video: Wie meistert hörbehinderter Damian sein Studium?

Damian Breu studiert BWL in München.
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Studium mit Hörberhinderung

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