BR Fernsehen - Sehen statt Hören


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Gehörlos und Schule Wie Inklusion gelingen kann

Mehr als die Hälfte aller hörbehinderten Schüler*innen lernen nicht mehr an Förderzentren, sondern besuchen eine Regelschule in Wohnortnähe. Ist Inklusion also nicht mehr nur ein Ideal, sondern schon gelebte Praxis? Wie kann man den unterschiedlichen Bedürfnissen der Schüler*innen gerecht werden? Wir zeigen vier Beispiele.

Stand: 16.06.2023

Jette, 7. Klasse

Jette (rechts) verfolgt auf dem Tablet die Schriftverdolmetschung

Jette besucht die 7. Klasse der Oberschule Wiefelstede. Dort hat sie eine Schulassistentin, die für sie nun den Unterricht vorbereitet. Beispielsweise verteilt die Assistentin vor der Schulstunde Mikrofone, in die später Jettes Klassenkameraden sprechen werden. Diese Technik hilft Jette, die ein CI trägt, dem Gesprochenen besser folgen zu können und auf diese Weise bekommt auch ihr Online-Schriftdolmetscher alle Infos aus dem Unterricht mit.

Die ersten sechs Schuljahre musste sich Jette darum selbst kümmern - eine große Last. Die Folge: sie hat immer einen Teil des Unterrichts verpasst, denn auch für das Einsammeln, Laden und Verpacken der Mikros war sie verantwortlich.

"Ohne Schriftdolmetscher, ohne Schulbegleitung war es einfach Stress pur. Ich wusste nicht, ob ich wirklich alles verstanden hab, war mir unsicher, hatte selber einfach Angst, dass ich irgendwas verpasst habe oder irgendwas nicht verstanden habe."

Jette

Trotzdem war es nicht leicht, diese Unterstützung für Jette zu bekommen. Ihre Mutter Nadine von Deetzen hat den Antrag für Jette gestellt, darüber hinaus aber auch viele Rückfragen beantworten, Akten vorlegen und Rückschläge hinnehmen müssen: "Man darf dann auch nicht den Mut verlieren, wenn dann das typische Schreiben kommt: 'Können wir leider nicht übernehmen.'"

Elias, 4. Semester im Studiengang Wirtschaftsingeniuerwesen

Elias

Elias Zander gehört zu den 14.000 Studierenden an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Hier nutzt er - je nach Bedarf und Möglichkeit - Gebärden- und Schriftsprachdolmetscher.

Früher, während seiner Grundschulzeit, ist Elias an eine Gehörlosenschule gegangen. Weil er Abitur machen wollte, wechselte er in der 7. Klasse an eine Privatschule für Hörende, ab der 9. Klasse ging er an eine staatliche Schule. Dort freundete er sich mit Benedict an, ein hörender Junge, der für Elias die Gebärdensprache gelernt hat.

Elias (rechts) mit seinem Freund Benedict und ihrem ehemaligen Lehrer

An der Privatschule war er mit Hörenden nicht richtig zusammen gekommen, er vermisste das gehörlose Umfeld. An der staatlichen Schule dann traf er auch auf Lehrer, die ihm gegenüber offener waren. Und wenn in den Pausen die Dolmetscher nicht an seiner Seite waren, half ihm sein Freund Benedict.

Familie Zander: Olga, Thomas, Dina und Elias (v.l.)

"Von Anfang an inklusiv zu beschulen ist ein schwieriges Thema. An der Gehörlosenschule ist das soziale Miteinander stimmig, weil man unter Gleichen ist. Aber die Bildung bleibt auf der Strecke - die Kinder sind viel zu heterogen in ihrem Entwicklungsstand. Wie sollen die Lehrer alle angemessen fördern? Zumal gehörlose Kinder mit gehörlosen Eltern ja bereits sprachlich fertig entwickelt sind. Das geht nicht gut. An der hörenden Schule sind die Inhalte angemessen, aber das Soziale schwierig. Eltern sind immer im Zwiespalt, was schwerer wiegt: Bildung oder das Soziale? Das ist bis heute so."

Dina Tabbert-Zander, Mutter von Elias

Olga, 12. Klasse

Olga (Mitte)

Für Elias Schwester sind Bildung und soziales Miteinander gleichermaßen wichtig. Sie macht an der Witzleben-Schule, eine Schwerhörigenschule in Berlin, ihr Abitur.

"Ich habe an diese Schule gewechselt, weil der Umgang unter Schwerhörigen einfacher ist. Wir sind alle eingeschränkt beim Hören, kennen die Situation und können uns einander anpassen. Mit Hörenden ist es für mich schwieriger, weil die sich nicht anpassen und ich mich sehr anstrengen muss, um alles zu verstehen."

Olga

An der Witzleben-Schule lernen je 12 Schüler*innen pro Klasse - sie können also indiviueller gefördert werden. Die Unterrichtssprache ist die Lautsprache. Doch in den letzten Jahren hat sich hier einiges verändert:

"Olga, oder die Eltern von Olga, haben uns auf den Gedanken gebracht, dass wir sie in so einem inklusiven Setting unterrichten können. Wir haben am Anfang beidseitig uns an diese Art und Weise gewöhnt und haben festgestellt, dass das eine gute Sache ist, die mittlerweile auch Früchte trägt. Also mittlerweile haben wir hier vier gehörlose Schüler in so einem Dolmetscher-Setting drin und erwarten im nächsten Jahr Zuwachs, wo dann ein weiterer Schüler da ist, sodass wir dann fünf Schüler und Schülerinnen im Gymnasium, im gymnasialen Bereich, hier in diesem inklusiven Setting unterrichten."

Holger Huth, Schulleiter

"Was die Inklusion betrifft ist es nicht so, dass die Regelungen wunderbar klar sind und die Behörden alle Bescheid wissen. Tatsächlich müssen Eltern stark sein und Hintergrundwissen weitergeben. Wir haben gemerkt, dass viele in den Behörden keine Ahnung hatten. Wir mussten erklären und Überzeugungsarbeit leisten: dass Inklusion möglich ist und die Kosten dafür übernommen werden. Dabei saßen wir bei Sachbearbeitern, die das eigentlich hätten wissen und die Rechtsgrundlagen kennen müssen! Erst nachdem wir ihr all die Informationen gegeben hatten, wurde angenommen, geprüft und genehmigt. Wir mussten unglaublich viel Vorwissen haben. Ich hoffe sehr, dass sich das in Zukunft ändert."

Thomas Zander, Vater von Elias und Olga

Inklusionsklasse an der Samuel-Heinicke-Realschule

Gehörlosen-Pädagogin Iris Rauch mit ihrer Inklusionsklasse

Die Samuel-Heinicke-Realschule für Hörbehinderte in München hat einen neuen Weg der Inklusion eingeschlagen. Hörende, gehörlose und schwerhörige Schüler werden gemeinsam in einer Klasse unterrichtet.

Die Gehörlosen-Pädagogin wird von einer Dolmetscherin begleitet, um die Kommunikation für alle abzusichern. Da aber alle im Raum gebärden können, klappt die Kommunikation unter den Schülern auch mal ohne Dolmetscher*in. Dass das eine Besonderheit ist, merken die Schüler*innen besonders dann, wenn andere Lehrer vor ihnen stehen:

"Mir ist aufgefallen, dass Vertretungslehrer, die hörend sind und nicht gebärden können, immer erst die Klasse fragen, wer hören und gebärden kann und sich dann dolmetschen lassen. Aber das ist ja nicht die Aufgabe der Schüler! Ich wünschte mir, dass alle Lehrer die Gehörlosenkultur kennen würden und versuchten, direkt zu kommunizieren, auch über Tafelanschrift, und nicht über einen anderen Schüler. …Und natürlich wäre es toll, wenn alle gebärden könnten - das wäre mein Traum."

Miriam, Schülerin der Inklusionsklasse


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